Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
manchmal bist du es, Walter ...«
»Schhh ...« Ich verschloß ihr mit einem Finger die Lippen. »Sachte, Andy. Beruhige dich.«
Mit sichtbarer Anstrengung hörte sie auf zu reden.
Zitternde Finger griffen nach meinem Gesicht. Ihre Berührung war so suchend und sanft wie die Fäden eines Spinnennetzes.
»Manchmal ist es deins«, flüsterte sie. »Manchmal hat er dein Gesicht.« Ihr Atem ging schnell und stoßartig, ihre Stimme klang belegt und rauh. »Es wird alles so schwierig«, klagte sie. »Je näher wir nach Ehvenor kommen.«
Sie berührte meine Stirn mit zwei weit gespreizten Fingern und hauchte einen Zauberspruch, als bliese sie eine Luftblase.
Helle Lichter flammten in meinem Kopf hinter den Augen auf. Ich konnte entfernte Feuer am Horizont und dahinter erkennen. Sie brannten zu hell: ein Rot und Orange von solcher Intensität, daß es mir die Augen aus dem Kopf gebrannt hätte, wäre es wirklich gewesen.
In der Ferne, weit hinter dem Horizont, tosten die brausenden Wellen des Zirrischen Sees am Rand von Faerie, mancherorts brodelnd und gefroren an anderen; während unter der Oberfläche riesige, dunkle Gestalten darauf warteten, losgelassen zu werden.
Irgendwo in der Ferne, aber doch näher, war eine purpurne, magische Ader aufgeschnitten worden. Fremde Dinge und Fremdheit bluteten in die Luft hinaus und nahmen eine Festigkeit an, die bei all ihrer Falschheit nicht weniger substantiell war: die Vision einer säbelzahnbewehrten Kreatur mit Fledermausflügeln wurde wirklich und flatterte in die Nacht hinaus; eine riesige, körperlose, klotzige Gestalt verdichtete sich und nahm Form an. Sie schabte mit ihren haarigen Seiten über den Boden.
Ganz weit hinter der Ferne - kaum sichtbar, und dennoch kristallklar - wartete eine Landmasse. Helle Lichter pulsierten die gewundene Uferlinie entlang - gleich einem Tanzschritt, dessen Muster irgendwie vertraut, aber unvorhersehbar ist.
»Faerie«, meinte sie. »Denke an dich, mit allen Problemen und Sorgen, die ein Mensch nur haben kann. Du könntest alles das vor Faerie legen, und sie könnten dich geheilt und guter Dinge nach Hause schicken oder gebrochen und mißgestaltet - besser, als du je warst, oder schlimmer, als du je befürchtet hast.«
Wie stehen die Chancen?
Sie lachte, als sie die Hände vor mir ausbreitete. Ihre Finger bewegten sich, als ob sie ein Kartenspiel ausfächerte. »Stell dir ein Kartenspiel mit unendlich vielen Karten vor, Walter. Jede hat eine Nummer von eins bis unendlich. Es gibt eine Eins, zwei Zweien, drei Dreien, vier Vieren, und so weiter.« Sie tat so, als würde sie die Karten aufblättern. »Zieh eine Karte, Walter, irgendeine, von eins bis unendlich, und ich werde auch eine ziehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß meine Zahl größer ist als deine?«
Fünfzig zu fünfzig, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtete. Hundert Prozent, wenn man es aus einem anderen sah. Und null, wenn man es aus einem noch anderen betrachtete.
»Alle stimmen«, antwortete sie und wischte das Kartenspiel weg.
Die innere Vision wandte sich vom Wasser fort zum Land. Früher dachten wir, daß machtvolle, magische Objekte selten und weit voneinander entfernt seien. Aber allein innerhalb der Grenzen von Artiven konnte ich das Flackern von einem halben Dutzend Za uberamuletten und -ringen erken nen, und nicht nur das Feuer eines einzelnen verzauberten Steins oder Glasstücks. Versteckt - eingewickelt in längst verrottetes Leder - lag ein eiserner Handschuh; seine Finger waren wie dicke Würmer segmentierten Stahls. Jeder Finger hatte eine gezackte Schneide wie die Zähne eines Hais. Er wartete, während er im Ufersand lag - hinabgestoßen unter dem verrotteten Pfahlbau eines alten Docks.
»Der Todeshandschuh«, erklärte sie. »Er tötet erfolgreich, er tötet gut, aber jedesmal, wenn du ihn benutzt, tötet er auch ein wenig von dir selbst. Er wurde vor langer Zeit von jemandem begraben, der weise genug war, ihn nicht zu behalten. Es gibt einige, die alles, was sie haben, dafür hergeben würden.«
Warum blieb er dann so lange dort liegen? Ich sprach die Frage nicht aus, aber Andy beantwortete sie trotzdem.
»Kannst du es nicht sehen? Er ist versteckt.«
Im Augenblick ist er es nicht. Aber ich brauche keinen Todeshandschuh, vielen Dank.
»Nein, Walter, du Idiot. Das Problem liegt nicht im Todeshandschuh, sondern im Rest des Bildes. Es ist zu schwer, es hervorzurufen. Ich brauche mehr Kraft und Kontrolle, um es zu orten und alles
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