Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
führte ...
Sanft ließ ich die Sehne los. Ich lag ein bißchen daneben, hatte aber Glück dabei: der Pfeil streifte nur einige Blätter und wurde nicht so stark abgebremst, daß daraus ein Fehlschuß wurde. Er bohrte sich satt in die Wurzel, während Jasons Pfeil gut einen Fuß davor in die Erde drang.
»Her mit dem Geld«, forderte ich.
»Setz es auf meine Rechnung«, gab er zurück.
»Na gut.«
Ich holte mir meinen Pfeil wieder, legte ihn ein und sah mich nach einem anderen Ziel um.
»Ähm, Onkel Walter?« Jason runzelte die Stirn, als er seine Pfeilspitze prüfte, aber ich glaubte nicht, daß dies dem Pfeil galt.
»Ja?«
»Wie kommt es, daß ich den Eindruck habe, daß wir gar nicht richtig hinter Hirschen her sind?«
Tennetty kicherte. »Vielleicht, weil wir so damit beschäftigt sind, die Bäume abzuschießen?«
»Hinter den Baracken gibt es einen perfekten Schießplatz«, bemerkte Jason.
»Wenn du etwas Langweiligeres kennst, als den ganzen Morgen Pfeile ins Schwarze zu setzen, brauchst du es mir nicht zu erzählen.«
Was mich betrifft, so tue ich viel lieber so, als ginge ich auf die Jagd, und schieße einige Bäume. Ich übe nie wirklich mit meinen Wurfmessern - ich benutze sie einfach in größeren Abständen, um mich dessen zu versichern, daß ich noch immer das Talent dafür besitze. Das aber steckt tief in mir. Ich muß es ebensowenig üben wie ein Fisch das Schwimmen mit den Flossen.
Mit den Fertigkeiten, die ich gelernt habe, ist es dagegen eine andere Sache: wenn ich nicht ungefähr alle zehn Tage zumindest ein paar Stunden mit dem Langbogen übe, roste ich ein - das war mehr als nur einmal beinahe schiefgegangen. Schief insofern, als sich Stash und Emma Slowotskis kleiner Junge aufgrund dessen beinahe umgebracht hätte. Woody Allen würde sagen , daß der Tod eines der schlimm sten Dinge ist, die jemandem in unserem Geschäft zustoßen könne, und viele von uns ziehen es vor, den Preis dafür zu bezahlen.
Also übe ich. In meinem Leben habe ich viel zuviel Zeit damit verbracht zu üben, wie man einige Dinge abschießt und andere aufschlitzt, aber so ist das nun mal. Das gehört zum Bezahlen dazu.
Aber niemandem zeigst du wirklich alles, was du kannst.
»So gefällt es mir besser«, sagte ich. »An einem schönen Tag in netter Gesellschaft ausziehen, frische Luft atmen - vielleicht bei Gelegenheit ein paar Silberstücke machen ...«
» ... von irgendeinem Gimpel«, sagte Tennetty lächelnd.
Aber es war kein freundliches Lächeln, und es verdarb beinahe den Morgen.
Kapitel zwei
In dem ich einige Familienangelegenheiten erörtere
Chi fa ingiuria no perdona mai.
(Er vergibt denen nie, die er verletzt.)
- ITALIENISCHES SPRICHWORT -
Meistens kann es nur noch schlimmer werden, doch von Zeit zu Zeit wendet sich das Universum des Menschen zum Besseren hin - so auch, wenn zum Beispiel jeder erwartet, daß etwas ganz Schlimmes geschehen wird, und dann doch etwas völlig anderes, etwas Angenehmes eintritt.
Manchmal ist das Ereignis selbst nett - manchmal nur dadurch, daß das Schlechte nicht eintritt. Ich bin mit beidem zufrieden.
So war ich, wenn ich mich recht erinnere, sieben Jahre alt, als so ein Fall eintrat. An diesem Abend waren meine Eltern ausgegangen, und mein Bruder Steven hatte eine Verabredung. Deshalb hatten meine Eltern einen Babysitter eingestellt. Ihr Name war Mrs. Kleinman. Sie lebte von einer Art Witwenrente in einigen seltsam riechenden Zimmern, in einem Mietshaus aus rotem Backstein, etwas weiter unten im selben Block wie unser Haus. Sie war eine häßliche alte Schachtel und konnte Kinder überhaupt nicht leiden. Niemals hatte sie Lust zum Spielen oder zum Plaudern. Sie schaltete immer nur den Fernseher ein, zog die Schuhe aus und schlief auf der Couch ein, während ihre Hand in einer Schüssel Kartoffelchips ruhte.
Was hätte ich also tun sollen? Ich tat das Naheliegendste. Doch als Stash und Emma nach Hause kamen, gab es Ärger. Immer wenn der gute Stash - das ist ein alter polnischer Spitzname, versteht ihr? - wütend wurde, dann hatte er bei jedem Pulsschlag dieses Zucken in seiner rechten Wange.
Er kam in mein Zimmer. Das Licht im Flur verbarg die Hälfte seines Gesichts im Schatten. Seine Fäuste öffneten sich. Stash war ein kleiner stämmiger Mann, aber er hatte riesige Hände, die er zu riesigen Fäusten ballen konnte.
Zwar würde er mir keinen auf die Nase geben, aber er war kurz davor, mir den Hintern zu versohlen. Sein Gesicht war vom Kinn bis zur
Weitere Kostenlose Bücher