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Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor

Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor

Titel: Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joel Rosenberg
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weg.
    Der Zwerg hielt die Axt leicht in den Händen und neigte lauschend den Kopf, als im Flur vertraute Schritte ertönten.
    Ahira senkte seine Axt. »Hallo, Andrea«, sagte er.
    Andrea schritt durch die Tür, aber es war eine veränderte Andrea. Ihre schwarze Lederweste und -hose waren einer strahlend weißen Robe gewichen, die aus Nebel und Licht gewoben war. Ihr schwarzes Haar war mit Silber durchwirkt; ihre Augen waren rot und wiesen dunkle Ränder auf, die entweder von Weinen oder zu wenig Schlaf zeugten.
    Jason machte einen Schritt auf sie zu, doch Ahira hielt ihn am Arm zurück. »Warte.«
    Sie hob ihre schlanke Hand. »Ja, ich bin es. Älter, vielleicht ein Jahr, vielleicht mehr oder weniger? Die Zeit ist so ... anders hier, und ich habe mich in den Winkeln der Zeit verborgen und versucht, immer mehr zu lernen, um den Wahnsinn besser zu kontrollieren. Ja, ich bin älter geworden und hoffentlich auch ein bißchen weiser. Sicherlich, ich weiß jetzt genauer, wie wenig ich weiß, aber ich bin immer noch ich selbst.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Darf ich dich umarmen? Es ist schon so schrecklich lange her«, sagte sie.
    Aber Tennetty verschwendete keine Zeit darauf, sich etwas einfallen zu lassen. Sie bohrte ihre Finger in ihre Augenhöhle und warf mir das Auge zu, während sie sich auf Boioardo stürzte.
    Das Glasauge flog mir durch die Luft entgegen.
    Nein. »Tennetty, tu's nicht.«
    Aber gedacht oder gesprochen, es machte keinen Unterschied. Nareens Glasauge, dasjenige, welches die Drei brauchten, um durch den Schleier der Unbeständigkeit in das Herz von Ehvenor zu gehen, schwebte in der Luft auf mich zu. Ich schnappte mir das Auge, drückte es Andrea in die Hand und legte los, aber es war schon zu spät.
    Boioardo hatte sich bereits von seinem Thron erhoben und sich dabei so schnell bewegt, daß die Ärmel und ein Umhang wie das Ende einer Peitsche durch die Luft knallten. Er schlug ihr Schwert zur Seite, als ob es überhaupt nicht vorhanden war, und packte sie mit bloßen Händen.
    Sie schrie nur einmal laut auf, als seine Finger wie eine Hacke, die durch den Boden pflügte, durch ihr Fleisch schnitten. Dann schüttelte er das, was von ihr übriggeblieben war, ein-, zwei-, dreimal, genauso, wie ein Hund eine Ratte schüttelt, und schleuderte sie zur Seite. Blutig, zerfetzt, tot.
    Seine Arme waren bis zu den Ellbogen mit Blut bespritzt. In seiner Eitelkeit schien er sich daran zu stören. Er schaute auf seine Arme und all das rote Blut hinunter, und machte dann eine einzige beiläufige Geste, worauf das Blut sofort verschwand. Tennetty lag auf dem Fußboden; ihre toten Augen starrten reglos in das Nichts.
    Man verschwendet keine Zeit damit, Freunden nachzutrauern, nicht während eines Kampfes, nein, das tut man nicht.
    »Also, Andy«, sagte ich. »Mach es jetzt, schnapp ihn dir. Wie du es schon mal gemacht hast.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier, nicht hier an der Grenze zu Faerie. Ich habe nicht genügend Macht, nicht genügend Kräfte.«
    Boioardo lächelte. »Sie weiß, daß ich euch in Ehvenor überallhin verfolgen kann, wo ihr euch auch zu verstecken sucht.«
    Ich zog Andrea eng an mich. Gott, warum hast du die Frauen bloß so warm erschaffen? »Versteck dich jetzt erst einmal«, flüstete ich, »aber bring das Auge dorthin, wo es hingehört. Tue, was getan werden muß.«
    Sie nickte einmal schnell, berührte dann mit ihren sanften Fingern meine Lippen und stieß mich hart fort. Während ich zurücktaumelte, machte sie einen Schritt zur Seite und verschwand ...
    Unbeholfen umarmte Jason seine Mutter, und Ahira ließ die Schneide seiner Axt auf den Teppich fallen.
    »Wie lange?« fragte Ahira. Sie spreizte die Finger, als Jason sie losließ. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Jahr, vielleicht zwei. Ich hatte mir angewöhnt, die Essens- und Schlafenszeiten zu zählen, aber ich ließ davon ab, als ich herausfand, daß ich hier nicht viel zu essen und zu schlafen brauchte. Zwei Jahre?« Sie ging zum Fenster. »Lang genug, all das zu lernen, was notwendig ist, um diese Straße zu überqueren. Lang genug, um die meisten der Wege, die durch Ehvenor führen, zu kennen, lang genug, einige Wahrheiten über mich selbst herauszufinden, und lang genug, um meine Anwesenheit hier zu akzeptieren.« Sie schüttelte den Kopf, als sie sich wieder den andern zuwandte. »Es tut mir leid, daß ich so empfindlich bin. Ich weiß, daß es für euch nur Sekunden gewesen sind.«
    Ahira lächelte darüber.

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