Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
»Das beantwortet diese Frage.«
Endlich machte dieser Teil einen Sinn. Er kannte Andrea Andropolous Cullinane jetzt seit zwanzig Jahren und hatte sie als so eigensinnig kennengelernt, wie ein Mensch nur sein kann. Ihr Wille unterstand niemals dem Einfluß eines anderen. Sie selbst traf die Entscheidungen und niemand sonst. Niemand anders.
Also, wer könnte Andrea nach Ehvenor gerufen haben? Wer könnte sie hierher gebracht haben? Wer hatte sie aus Schloß Cullinane hierher gerufen? Wer war es, der sie so verrückt gemacht hatte, daß sie sich auf die Straße begab und sich in das Gott-weiß-wo aufmachte?
Andrea.
Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich bin's. Wer sonst?« Für einen Moment war ihr Blick verschwommen. »Sie wird schon in Kürze mit dem Auge ankommen.«
»Und was wird dann passieren?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Mir ist nur wenig davon bekannt. Sie hatte nicht - ich meine, ich hatte nicht die Zeit, lange mit ihr zu sprechen. Nachdem wir euch beide verließen, nahm sie das Auge an sich und stieß mich in einen fremden Teil von Ehvenor, wo ich mich dann verirrte. Ich mußte lernen, wieder meinen Weg hierher zurückzufinden. Sie sagte, daß sie versuchen würde ... also, daß ich versuchen würde, die Straße zu überqueren, um das Auge hierher zu bringen.« Sie schaute aus dem Fenster hinaus. »Ganz gleich, was es kostet. Der Rest ist Sache der Drei.« Ihre Augen öffneten sich. »Ach, nein. Es hat so gut getan, euch beide zu sehen, daß ich vergessen habe, was sie mir erzählte ...« Sie wandte sich an Jason. »Schnell, gib mir dein Messer.«
Ich taumelte zurück in eine leere Straße, die sich in einem verlassenen Teil der Stadt befand. Unter dem dunklen Himmel zogen sich Reihen von Mietshäusern an der schmutzigen Straße entlang, durch deren geborstenen Boden ein kaltes, weißes Licht leuchtete.
Ich war allein, aber ich sollte nicht für lange Zeit allein bleiben. Nicht wenn Boioardo mir gefolgt war. Der Plan beruhte auf der Hoffnung, daß Boioardo mich jagen würde und ich ihn lange genug ablenken könnte, um Andy die Zeit zu verschaffen, ihren Auftrag zu erledigen. Sie würde das Auge zur Botschaft von Faerie bringen und zurückkehren, um mich aus der Gefahr zu befreien, bevor Boioardo mich tötete.
Andy war im Aufspüren von Menschen und Dingen äußerst geschickt. Es würde funktionieren, wenn ich nur genügend Zeit herausschlagen würde. Aber ich mußte darauf achtgeben, Boioardo so lange wie möglich nicht in die Quere zu kommen ...
Ich spürte ein Klopfen auf meiner Schulter - da war er schon. Es war bei weitem nicht so, daß ich mein Spiegelbild in ihm erschaute, ganz bestimmt nicht. Wäre jemals ein so selbstgefälliges Grinsen unter meinem Schnurrbart zu finden gewesen?
»Ein hübsches Plätzchen«, sagte er und griff langsam nach mir. Das vom Boden aufscheinende Licht hüllte seine Augen in Schatten, aber sein allzu freundliches Lächeln fing in der Dunkelheit beinahe zu glühen an. »Sollen wir es hier zu Ende bringen?«
Schon auf der High School war ich als Stürmer bekannt. So tauchte ich unter seinen Armen durch und rannte querfeldein los. Es brachte mir überhaupt nichts. Er war sofort da. Immer einen halben Schritt hinter mir. Er lief nicht, sondern glitt mühelos über den Boden, wobei seine Füße niemals das Erdreich berührten.
Er runzelte die Stirn. »Das ist viel zu einfach«, sagte er und gab mir dabei so etwas wie einen leichten Schubs. Es fühlte sich bloß nicht so an - ich wurde zwei Meter über den schmutzigen Boden geschleudert, wobei Steine und Schmutz meine Kleidung über der linken Hüfte in Fetzen rissen und mir dann ein großes Stück Haut und Fleisch von Hüfte und Oberschenkel abschrammten. Ich prallte so hart gegen eine Wand, daß mir die Luft wegblieb.
Ich lag gekrümmt am Boden und versuchte, etwas Atem in die Lungen zu zwingen. Meine Muskeln wollten aber nicht gehorchen. Kein einziger.
Er ragte drohend über mir auf. »Hoch mit dir. So ein schlechter Sportsmann kannst du doch nicht sein.«
Ich rollte mich auf Hände und Knie und stand dann taumelnd auf.
»Warte«, brachte ich krächzend hervor. »Gib mir ... Zeit ..., mich zu erholen.«
Ich war mir nicht sicher, ob das rechte Knie mein Gewicht tragen konnte; außerdem konnte ich spüren, wie meine Rippen in jenem Bereich blinder Schmerzen, den ich normalerweise als meinen Brustkasten bezeichne, gegeneinander knirschten.
Sein Lächeln wurde breiter. »Dazu besteht kein Anlaß.« Er winkte
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