Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
meine Wange. »Beweg dich jetzt nicht, Walter«, flüsterte sie mit gedämpfter Stimme. »Er ist genau hinter dir.«
Tennetty wirbelte herum und riß ihr Schwert in die Höhe, aber die Gräser verwandelten sich in Schlangen, die sich um ihre Knöchel wanden und ihre langen Giftzähne tief in ihre Waden schlugen.
Sie schrie auf. Ich weiß nicht, warum es mich so überraschte, daß es ein gellend hoher, furchtbarer Ton war, genau wie bei jedem anderen auch. Aber sie verwandelte ihn in ein Grollen, als sie auf die Schlangen einhackte, die von ihrer Klinge zerteilt wurden und den Boden um sie herum in einen Morast aus blutenden, sich krümmenden Stücken von Reptilienfleisch verwandelten.
Die Stimme klang wie zuvor.
»Guten Tag, alle miteinander«, sagte Boioardo. Seine Gesichtszüge waren zu regelmäßig, zu schön, seine Kinnspalte zu scharf. Er trug nur Schwarz und Karmesinrot. Über eine Schulter hing nachlässig ein scharlachroter Kapuzenumhang, der bis zu den schwarzen Stiefeln reichte, die selbst für einen SS-Offizier genug Glanz gehabt hätten. Sein Hemd war aus rotem Velour, an den Schultern eng geschnitten und um die Taille gegürtet, um den keilförmigen Oberkörper des Bodybilders zu betonen.
Er gab vor, sich in der leeren Luft hinzusetzen, genau wie jemand, der vergessen hat, daß hinter ihm kein Stuhl steht. Doch bevor er hinfallen konnte, kam ein Schwarm winziger geflügelter Eidechsen aus den Bäumen herabgeflogen, die scheinbar mühelos einen Juwelenthron herbeitrugen, den sie gerade rechtzeitig bereitstellten. Andere nahmen ihm seinen Umhang ab und falteten ihn sorgfältig über der Rücklehne des Throns zusammen.
Tennetty, die noch nach den Schlangen schlug, grollte noch einmal.
Boioardo schlug die Beine übereinander und glättete seine bereits glatten schwarzen Hosen. »Oh, bitte, mach doch hier nicht so ein Aufhebens.« Die Schlangen schmolzen bei seiner Geste zusammen, aber das Blut lief immer noch an ihrem Bein hinunter.
Boioardo verschwamm vor meinen Augen, und als ich ihn wieder fixieren konnte, war er ein schlanker Mann, ungefähr in meinem Alter und von meiner Größe, der immer noch lässig auf seinem Thron saß. Vielleicht war er ein bißchen älter, etwas weniger in Form und nur an den Schläfen leicht ergraut. Sein Kinn war fest, sein Bart glattgekämmt, und um seine Augen gab es ein paar kaum sichtbare Lachfalten. Er war ganz in Schwarz gekleidet, außer einem braunen Umhang, der durch eine schwarze Spange gehalten wurde.
Okay, okay, ganz langsam: »Ich sehe besser aus«, sagte ich.
Tennetty warf mir einen amüsierten Blick zu. Ich meine, amüsierter als gewöhnlich. »Als ich?« wollte sie wissen.
Andreas Finger berührten mich an der Schläfe, und für einen Augenblick begann er zu flimmern, wurde zu Tennetty, dann zu Andy und dann wieder zu mir. Er war nicht ich, er spiegelte mich nur auf seine eigene Weise wider.
Andy blickte mir für einen kurzen Moment in die Augen. Sie brauchte es mir nicht zu sagen: Sie mußte das Auge zur Faerie-Botschaft bringen, und Boioardo mußte lange genug aufgehalten werden, damit ihr das gelang. Sie kannte den Weg. Tennetty besaß das Auge. Das machte Andy unentbehrlich, Tennetty beinah ebenso wichtig und mich verzichtbar.
Aber sie konnte es nicht. Auf mich verzichten, meine ich. Nicht ohne meine Einwilligung. Das war das Problem bei Andrea: Sie war niemals kaltblütig genug.
Es war immer der gleiche Traum. Außer, daß mich diesmal die Cullinane darum bat, es selbst zu tun, und ich wußte nicht, ob ich es schaffen könnte.
Ich erstarrte, nur für eine halbe Sekunde ...
Kapitel sechsundzwanzig
In dem ich den Ort finde, wo dir nur das helfen kann, was du geliebt hast
Greife ins volle Leben. Strecke die Arme aus. Berühre, empfinde und lebe. Vertraue mir dieses eine Mal, wenn du mir auch sonst nicht glaubst.
- WALTER SLOWOTSKI -
Bei den folgenden Ereignissen war ich zum größten Teil abwesend, aber sie sind wohl geschehen, als ich gerade um mein Leben kämpfen mußte.
Vielleicht war es auch nicht so. Was ich sagen will, ist, daß es passierte - die Berichte über den weiteren Verlauf sind verläßlich - , aber da gibt es immer noch das Problem mit der Zeit. Wir wissen nicht viel über Faerie und sind wahrscheinlich auch nicht dafür geschaffen, viel darüber zu erfahren. Aber wir wissen, daß die Zeit sich in und um Faerie seltsam verhält, und es bestand kein Zweifel daran, daß wir uns ganz in der Nähe von Faerie befanden. Zudem
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