Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Zahlreiche Strippen krochen unter dem weißen Krankenhaushemd seines Vaters entlang und waren an der Brust festgeklebt. Sie leiteten, wie Schneider vermutete, elektrische Ströme für die Aufzeichnung des EKGs weiter. Die Nadel des Infusionsschlauchs steckte in einer bläulich hervorquellenden Vene auf dem rechten knochigen Handrücken, war mit Kreppband auf der Haut befestigt und von einem unregelmäßig begrenzten Bluterguss umgeben. Eine klare Flüssigkeit tropfte stetig aus einem durchsichtigen Sack in einen kleinen Behälter hinein, der entfernt an den Benzinfilter eines VW-Käfers erinnerte.
Schneider wurde aufs Neue bewusst, wie er den Anblick medizinischer Geräte hasste. Hätten ihm diese Apparaturen nicht durch diverse unregelmäßige spitze Zacken auf den Monitoren sowie diverse akustische Signale verraten, dass sein Vater noch am Leben war, hätte er ihn genauso gut für tot halten können. So sehr er sich bemühte, er vermochte kein Heben und Senken des Brustkorbs zu entdecken.
Plötzlich schlug der alte Mann die Augen auf, drehte seinen ergrauten Kopf zur linken Seite und suchte die Augen seines verunsicherten Sohnes.
»Hallo Vater«, brachte Schneider mühsam hervor, als wäre eine Schnur um seinen trockenen Hals gelegt. Er räusperte sich mehrmals.
Dr. Bergau hatte ihm auf dem Weg mitgeteilt, dass, wenn Karl Wilhelm Schneider dem Tod noch einmal entkommen würde, er den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt wäre und ein beinah schweigendes Dasein führe müsste. So umfassend waren die Schädigungen des Hirns durch den Schlaganfall gewesen.
Der Alte bemühte sich nach Kräften, seinen Sohn zu begrüßen, mit einem leisen Röcheln und dem schwachen Heben der linken, unverkabelten Hand.
Richard ging einen Schritt in Richtung des Bettes, und da er keinen Stuhl fand, den er hätte danebenstellen können, setzte er sich zögerlich auf die Bettkante – wie er es damals bei seiner Mutter gemacht hatte. Um irgendetwas in dieser Situation zu tun, glättete er mit beiden Händen den sterilen Kittel vor seinem Bauch. Der Alte ließ ihn derweil nicht aus den Augen und streckte seinem Sohn die mit zahlreichen Altersflecken übersäte Hand entgegen. Er lag ganz ruhig in seinem Bett und doch flackerte eine angsteinflößende Unruhe in seinen Augen. Sie erweckte in Richard den Eindruck, als wäre nicht mehr viel Zeit, Dinge auszusprechen, deren Erwähnung wichtig gewesen wäre. Er zögerte, die Hand, die ihn einst verprügelt hatte, versöhnlich in die Seine zu nehmen. Warum sollte er nun die über Jahre gelebte Distanz aufgeben und eine ihm unangenehme Vertraulichkeit zulassen? Doch fand er schließlich keine Möglichkeit, sich ihr zu entziehen. Zärtlichkeit unter Männern war ihm stets zuwider gewesen, aber dieser Mann war ja nicht irgendein Mann. Es war sein Vater, auch wenn er einen fauligen Mundgeruch verströmte.
»Hallo Papa«, wiederholte er und gab sich keine Mühe, die alte Hand, die nun in der Seinen lag, wieder loszuwerden. Zu fragen wie geht es dir ?, erschien ihm töricht. Für jeden Betrachter war offensichtlich, dass der Patient, der vor ihm lag, nur mit viel Glück wieder raus kommen würde.
Eine halbe Ewigkeit verging, in der sich Vater und Sohn ansahen. Richard bemerkte die Unruhe, die den Alten quälte, schrieb sie aber der allgemeinen körperlichen Verfassung zu. Dennoch brachte der sonst so redegewandte und schlagfertige Sohn außer seiner kümmerlichen Begrüßung keine einzige Silbe hervor. Es wäre ja ohnehin nur ein Monolog gewesen. Und: Was hätte er auch berichten sollen?
Was für ein toller Kerl er in all den Jahren geworden sei, wie viele Millionen er schon gescheffelt hatte oder dass ihn seine nörgelnde Frau nun endlich verlassen habe und mit der stolzen Abfindungssumme einen andern Mann beglücken würde?
Er hätte ihm sagen können, das wird schon wieder , oder ähnliche Floskeln, doch diese Art von Geschwätz lag ihm nicht. Vielleicht brauchte Richard nur ein wenig mehr Zeit. Viele Jahre der Entfremdung ließen sich nicht in wenigen Minuten rückgängig machen. Richards Vater erregte sich zusehends, konnte sich aber seinem Sohn nicht mitteilen. Sein Mund öffnete sich, er holte Luft wie ein Fisch, der an Land geworfen wurde, ein verständliches Wort kam aber nicht über seine Lippen.
Der behandelnde Arzt verfolgte die Szene durch die Glasscheibe und beschloss, seinem Patienten zur Hilfe zu kommen. Die OP-Schleuse öffnete sich und Dr. Bergau stellte sich zu
Weitere Kostenlose Bücher