Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Feier des Hochfestes der ›Heiligen Lanze‹ der silbernen Manschette noch eine goldene hinzu: ›LANCEA ET CLAVUS DOMINI, Lanze und Nagel des Herrn!‹ Außerdem wurden weiter unten zur Tülle hin Messerklingen angesetzt und befestigt. In diesem Zustand ist die Lanzenspitze, die aus Wien gestohlen wurde, noch heute.«
Die Passagiere lauschten den Ansagen des Piloten. Das Wetter in Rom sei sehr schön und so weiter. Raphaela hasste diese ständigen Unterbrechungen und wollte die letzten Minuten vor der Landung nutzen.
»Gib mir noch ein paar Minuten«, flehte sie. »Ich bin gleich fertig. So schnell wirst du nie wieder zu einer guten Vorlesung über Geschichte kommen.«
Huber sah sie an und versank in ihrem unbeschwerten Lachen.
Sie fuhr fort: »Karl IV. brachte die Lanze nach Nürnberg. Sein Sohn, Kaiser Sigismund, bewahrte sie zusammen mit dem Reichskreuz in einem gold-silbernen Behälter auf, der natürlich mit dem Nürnberger Wappen geschmückt war, dem sogenannten ›Heiltumsschrein‹. Dieser hing unmittelbar vor dem Altar der Kirche, damit man die von zwei Engeln gehaltenen ›Heiltümer‹ bewundern konnte. 100 Jahre lang feierte man auf dem Nürnberger Marktplatz das Fest der ›Heiligen Lanze‹. Man errichtete eigens einen Heiltumsstuhl, an dem jeder Pilger vorbei musste.«
Huber unterbrach Raphaela ungern, sie befanden sich im Landeanflug und eine Frage war ihm noch wichtig. »Was ist nun mit dem Nagel, der in die Lanze eingearbeitet wurde? Ist es nachweislich ein echter Nagel vom Kreuz Christi? Oder wenigstens Spuren davon?«
Raphaela lachte leise. »Nein, leider nicht. Erst kürzlich war ein Team von Wissenschaftlern in Wien und hat die Lanze genau untersucht. Moderne metallurgische und röntgenologische Untersuchungen haben gezeigt, dass alle Teile aus ein und demselben Metall angefertigt wurden. Das sind natürlich erst Erkenntnisse der letzten Jahre. Trotzdem kann man nicht hundertprozentig sagen, ob nicht irgendjemand winzige Spuren eines anderen Metalls dort eingeritzt hat.«
»Na was denn nun? Du musst dich schon entscheiden.«
Raphaela wiegte unschlüssig den Kopf und suchte nach einer Antwort. »Es ist wie in der Homöopathie. Nach einer Verdünnungsreihe von 20 kann man in der Flüssigkeit so gut wie nichts mehr von der Ursubstanz feststellen. Doch die, die daran glauben, sagen, dass die Information des Urstoffes das Entscheidende sei, nicht die Menge.«
Huber zog die Brauen hoch.
»Tja, es ist eben Magie, Alois. Wenn irgendjemand verbreitet, in der Lanze seien mikroskopisch kleine Partikel des echten Nagels vom Kreuz Christi, reicht das manchem gläubigen Menschen, um dem Gegenstand göttliche Kraft zuzuschreiben. Der Glaube versetzt Berge, das weißt du doch.«
»Das ist kein Glaube, sondern Aberglaube und reiner Hokuspokus.«
Auf Raphaelas Gesicht zeigte sich ein Anflug von Zorn. »Augenblick mal. Du hast kein Recht, den Gläubigen abzusprechen, von dem du keine Ahnung hast. Ihnen hilft ihr Glaube, einen Halt zu finden, und der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen. Wie ging es weiter nach Karl IV.?« Huber schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie sich das Flugzeug dem Boden näherte.
Raphaela nutzte die verbleibende Zeit und fuhr fort. »Danach begann die Reformation und der Reliquienglaube wich dem Grundsatz ›Glaube statt Werke‹, die Protestanten wollten mit diesen Dingen nichts mehr zu tun haben. Auch Nürnberg wurde lutherisch, und es ist nicht ganz klar, was mit der Lanze danach passierte. Erst 1796 hört man wieder etwas von ihr, als Napoleon mit seinen Truppen vor Nürnberg stand. Man brachte sie in Sicherheit und übergab sie dem Schatz der Habsburger nach Wien.«
Huber stöhnte, weil sich sein Aufnahmefähigkeit dem Ende zuneigte.
»Schon gut, schon gut. Wir sind ja jetzt schon in der Neuzeit. Es gab nur noch einmal einen Zwischenfall, als Hitler 1938 Österreich dem Deutschen Reich angliederte. Er ließ die Reichsinsignien nach Nürnberg bringen, der Stadt seiner Reichsparteitage. Nach dem Krieg ist sie von den Amerikanern zurück nach Wien gebracht worden, wo sie bis heute verwahrt wurde.«
»War Hitler auch so von der Lanze besessen?«
»Schwer zu sagen. Ich denke, er benutzte die Lanze, wie alle anderen Herrscher auch, vor allem als Machtsymbol – als Herrschaftslegitimation. Es heißt, dass Hitler fasziniert von Richard Wagner und seinem ›Parsifal‹ war. Und in dieser Oper werden die Legenden vom
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