Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
zumindest in den Köpfen der Gläubigen. Damit liegt die Beweislast nicht mehr bei dem, der die Behauptung aufstellt, sondern bei dem, der sie abstreitet. Einem Irrtum aufzusitzen, ist für die meisten Menschen kein Problem, solange die Wirkung die gleiche ist.«
Huber öffnete die Augen und drehte den Kopf zu Raphaelas Seite. Mit einem Nicken gab er ihr zu verstehen, dass sie fortfahren möge.
»Die mystische Geschichte der Lanze beginnt mit Heinrich I. Es war üblich, dass sich weltliche Herrscher zugleich als Stellvertreter Gottes auf Erden verstanden. Dies war der Beginn des sogenannten ›Gottesgnadentums‹. Heinrich war in einer verzwickten Lage. Die Ungarn drangen ins westfränkische Reich vor, das heutige Frankreich. Sie plünderten und mordeten, dass es nur so krachte. Wo konnte da Hilfe herkommen?«
Huber ahnte die Antwort.
»Das Mittelalter war eine Zeit florierenden Aberglaubens. Was gab es da naheliegenderes, als sich einer heilsversprechenden Reliquie zuzuwenden. Die Schlacht an der Unstrut endete jedenfalls siegreich. Und damit hatte sich wieder einmal die Magie der Lanze bestätigt. Die Ungarn griffen zu Heinrichs Zeiten nie wieder an.«
Die weibliche Stimme über ihren Köpfen forderte alle Mitreisenden auf, sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Raphaela folgte den Anweisungen mechanisch und sprach unbeirrt weiter. »Ein paar Minuten bleiben uns noch. Hör zu.« Sie zwickte Huber am Arm, der ihr sogleich konzentriert in die geschwungenen Augen schaute. »Heinrichs Sohn, Otto I., hatte das gleiche Problem wie sein Vater. Er war gezwungen, die Grenzen des Reiches zu verteidigen und schaffte es, alle germanischen Stämme gegen die Ungarn zu vereinen. Es war zwar eine Armee aus mittellosen, unerfahrenen Tölpeln, die da in den Kampf zog, und eigentlich hätte sie keine Chance gehabt, wenn nicht …«
Huber ließ Raphaela nicht aus den Augen und verfolgte ihre Erzählungen mit Spannung. »… die Lanze herbeigeschafft worden wäre.«
»Genau. Die Truppen trugen den Sieg davon, just in dem Moment, als Otto I. die ›Heilige Lanze‹ vorantragen ließ. Und Otto wurde durch diesen Ruhmessieg zu Otto dem Großen. Dann geht es weiter in der Familie. Sein Enkel, Otto III., begann Kopien dieser göttlichen Reliquie herzustellen. Man übertrug kurzerhand mit irgendeiner Zeremonie die Heilskraft des Originals auf die Kopien. Eine dieser Kopien wurde dem ungarischen und eine andere dem polnischen Fürsten als Geschenk dargebracht. Otto wollte damit zum Ausdruck bringen, dass er die beiden Slavenfürsten als politische Partner akzeptiert. Heute noch wird an einem bestimmten Feiertag im polnischen Dom in Krakau die Reliquie gezeigt, besonders dann, wenn der Papst kommt.
Das Problem war nur, dass nach dem Tod Ottos III. die Thronfolge nicht eindeutig geklärt war. Also musste wieder die Lanze her, denn jeder wusste: Wer die Lanze besitzt, ist uneingeschränkter Herrscher. Heinrich von Bayern ließ kurzerhand die Lanze stehlen und avancierte so zu Heinrich II. Er und seine Frau Kunigunde waren übrigens das erste Kaiserpaar, das von einem Papst heiliggesprochen wurde.«
Huber atmete schwer und hatte Mühe, alles zu behalten, was Raphaela wie im Rausch abspulte. Doch er ließ sie weitererzählen. Raphaela rückte dichter an ihn heran. »Pass auf. Jetzt wird es spannend. Irgendwann um die Zeit Heinrich IV. wurde aus dem Mittelblatt der Lanze ein Stück heraus gestemmt, wodurch sie zerbrach. Man fügte daraufhin in die entstandene Lücke einen angeblichen Nagel vom Kreuz Christi ein, wodurch der Reliquienglaube noch verstärkt wurde. Die Bruchstelle verband man mit einem schmalen Eisenband und einem Silberblech, auf dem folgender Text eingraviert wurde: ›CLAVVUS HEINRICVS DEI GRATIA TERCIVS ROMANORUM IMPERATOR AVG USTUS HOC ARGENTUM IVSSIT FABRICARI AD CONFIRMATIONEM CLAVI LANCEE SANCTI MAVRICII + SANCTVS MAVRICIVS.‹ Zu Deutsch heißt das: ›Nagel des Herren, Heinrich von Gottes Gnaden der Dritte, Kaiser der Römer und Augustus, befahl dieses Silberstück herzustellen zur Befestigung des Nagels der Heiligen Lanze des Mauritius.‹«
»Natürlich war das ein echter Nagel vom Kreuz Christi, ist ja klar«, unterbrach Huber sie streitlustig. Raphaela überhörte den Zynismus und konzentrierte sich auf ihre Ausführungen. »Kaiser Karl IV. war noch nicht als Kaiser legitimiert, als er sich die Lanze nach Prag holte. Er machte sie mit dem Segen des Papstes zur Passionsreliquie und fügte um 1354 zur
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