Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
genutzt, ein paar Minuten darin herumzublättern. Vor allem eine Ausgabe von »PM« hatte ihn fasziniert. Sie beschäftigte sich mit teils esoterischen, vor allem aber wissenschaftlichen Randthemen wie Gehirnforschung, Erdbebenvorhersagen oder dem Grabtuch von Turin. Ein bestimmter Artikel war ihm sofort ins Auge gesprungen, auch wenn er ihn zunächst als völligen Unsinn verworfen hatte. Der Aufsatz handelte von der Relativitätstheorie, von Zeitachsen, schwarzen Löchern und der Frage, ob Reisen in andere Zeitalter möglich seien. Er musste lächeln, als er die Überschrift gelesen hatte: Sind Reisen in eine andere Zeit möglich? Buchen Sie schon heute ihren Flug!
In dem Artikel ging um die Entdeckung der sogenannten ›Weltformel‹, der heiß begehrten Formel, die die Relativitätstheorie und die Quantenphysik zusammenbringen und ihre Widersprüche auflösen würde. Eine Formel, die alles erklären konnte: warum ein Apfel nach unten fällt, warum sich Licht in Wasser bricht und wie die Welt nach dem Urknall entstand. Die Formel, die Licht in das Dunkel bringen würde, die allumfassende Formel Gottes.
Ein Teil des roten Randes dieser Zeitschrift schaute jetzt unter seiner Jacke hervor, und ein abwegiger Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis er einen Parkplatz am Seitenrand entdeckte. Er bremste heftig, dass die Räder blockierten und der Wagen auf dem Schotter noch ein paar Meter weiter rutschte. Hastig zog er die Zeitung hervor und suchte im Inhaltsverzeichnis nach diesem Artikel. Er fand ihn auf Anhieb und schlug die Seite 59 auf. Da war er. Lächerlich, hatte er im Flugzeug gedacht, doch nun interessierte ihn brennend, wie ernst man diese Theorien nehmen durfte. Die Autos rauschten an ihm vorbei, und durch den Winddruck, den sie verursachten, ruckelte sein Fiat.
Schneider legte das Heft aufgeschlagen vor sich auf das Lenkrad und begann zu lesen. Der Artikel war in drei Teile aufgeteilt. Zunächst hatten die Wissenschaftler untersucht, unter welchen Bedingungen Zeitreisen möglich waren. Dann stellten sie die Frage, ob diese Bedingungen künstlich erschaffen werden könnten. Letztlich überlegten sie, ob eine koordinierte Zeit-Raumreise von einem lebendigen Wesen angetreten und überlebt werden könnte. Nach Aussagen der Forscher war ihnen endlich der Nachweis gelungen, dass mikroskopisch kleine Teile ohnehin Zeitreisen unternahmen. Die Wissenschaftler hatten versucht, unter Aufbringung extrem großer Energiemengen winzigkleine Objekte in die Zukunft zu schicken und wagten sich später nun daran, dieses Experiment mit Kleinstlebewesen durchzuführen. Die Versuche befänden sich in einem fortgeschrittenen Stadium und stünden angeblich kurz vor dem Durchbruch. Einem Durchbruch, der es möglich machen würde, makroskopisch erkennbare Dinge oder gar Tiere durch die Zeit reisen zu lassen. Bisher hätten jedoch keiner der Probanden die Reise überlebt. Manche seien aus der Zeitschleife verstümmelt zurückgekommen und manche in der Zeit-Raum-Dimension hängengeblieben. Schneider sah sich die Fotos der Wissenschaftler an und betrachtete das Bild des Forschungsinstituts in Chicago. Er riss die sechs Seiten des Artikels aus der Zeitung raus, faltete sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in seiner Brieftasche. Ein sonderbarer Plan nahm in seinem wirren Kopf Gestalt an. Er war ein Mann auf der Flucht, ein Mörder, der zwei Männer getötet hatte, von denen einer ein Mann Gottes gewesen war. Was hatte er noch zu verlieren?
Er reihte sich in den Verkehr ein und fuhr weiter zum Flughafen. Gegen achtzehn Uhr hatte er den Wagen abgegeben und stand am Schalter der Fluglinie. Das Ticket nach Frankfurt brauchte er nicht mehr und zerriss es. Er würde sich von Chicago aus ein Neues kaufen.
Zwei Stunden später saß Schneider erneut im Flugzeug. Er war es gewohnt, die Welt zu bereisen, große Firmenkonzerne bei ihren Konkursen günstig aufzukaufen, Urlaub auf den Cayman Islands zu machen, im Ausland illegale Gelder zu parken oder sie bei Zweitfirmen zu waschen. Auf der Suche nach einer alten Lanze durch die Welt zu jetten, das war selbst für ihn neu.
Richard fragte sich in den kommenden Stunden, was ihn eigentlich antrieb. Warum blieb er nicht in Frankfurt und versuchte, die Scherben nach dem Comequad Crash aufzusammeln und sich mit neuem Elan anderen lukrativen Geschäften zuzuwenden? Warum hatte er seinen zwar nicht immer legalen, aber dafür gradlinigen Weg verlassen und sich auf
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