Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
zu berauben. Er stützte seinen Kopf auf seinen Arm und schaute zu ihr hinüber. Zwischenzeitlich hatte sie sich auf den Rücken gelegt, und er konnte sich nicht an diesem Bild eines barocken italienischen Künstlers sattsehen. Sein Blick strich über ihre festen Brüste, die wie sanfte toskanische Hügel die Erhebungen der Decke formten, und über ihren flachen Bauch, der wie ein Sandstrand langsam ins Meer verlief.
Irgendwann kehrte die Vernunft zu ihm zurück und brüllte ihm ins Ohr, dass der nächste Tag ziemlich lang werden würde. Er musste drei Stunden in die Toskana hineinfahren, einen alten Mönch nach einer noch älteren Lanze befragen und deren Rolle in einem undurchsichtigen Mordfall klären. Danach wieder drei Stunden zurückfahren, um am Abend todmüde ins Flugzeug nach Wien zu steigen – und all das mit nur vier Stunden Schlaf. Im Zuge dieser Erkenntnis schaltete er das Licht aus und fiel nicht lange danach in einen unruhigen Dämmerzustand.
Am nächsten Morgen checkten sie aus. Der Portier vom Vorabend musterte sie genau und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er betrachtete die Ringe unter Hubers Augen und Grassettis entspannten Gesichtsausdruck und interpretierte diese Kombination offensichtlich falsch. »Ich hoffe, Sie waren mit dem Zimmer zufrieden. Kann ich sonst noch etwas für sie tun?«
»Ja, das können Sie«, antworte Huber mit verkaterter Stimme.»Wir brauchen einen Mietwagen für einen Tag. Unser Flug nach Wien geht erst heute Abend. Ist es zu schaffen, an einem Tag in die Toskana und zurückzufahren«, interviewte ihn Huber auf Englisch, obwohl er genauso gut Raphaela hätte fragen können. Sie stand im Hintergrund und verdrehte die Augen.
»Natürlich«, bestätigte der Portier freundlich. »Sie benötigen zwei bis drei Stunden für jede Fahrt. Es ist ein wenig anstrengend, aber es ist zu schaffen. Sie müssen unbedingt noch einmal wieder kommen und sich dann viel mehr Zeit nehmen.«
Raphaela drängte sich vor, um diesem völlig unwichtigen Gespräch ein Ende zu bereiten. Sie erklärte ihm auf Italienisch, dass sie Italien kenne, ihr Vater Italiener gewesen sei und sie nur beruflich und nicht zu ihrem Vergnügen hier seien. Sie schaute ihn mit einem ernsten Blick an und verneinte damit seine unausgesprochene Frage.
Fünfzehn Minuten später parkte ein kleiner italienischer Flitzer vor der Tür. Sie warfen ihr Gepäck in den Kofferraum, und Huber machte sich mit den Instrumenten des blauen Fiat Punto vertraut. Raphaela lotste ihn aus Rom hinaus. Alois passte sich mühelos dem südländischen Verkehrsstil an und befand sich bald auf der Autobahn in Richtung Toskana.
Auf der Fahrt erkundigte sich Raphaela nach Hubers Nacht. Sie sagte, sie habe ausgezeichnet geschlafen und gar nicht mehr bemerkt, dass er aus dem Bad gekommen sei. Das müsse ja wohl Stunden gedauert haben. Huber brachte nur ein gequältes Lächeln hervor. Doch ja, er habe auch gut geschlafen, nur ein bisschen wenig. Er verriet ihr nicht, dass er sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen und sie beobachtet hatte. Er sagte auch nichts davon, dass er sich sehnlichst gewünscht hätte, seine Männlichkeit auszuleben. So, wie er auch für sich behielt, dass er einmal ganz dicht an sie herangekommen war, um an ihr zu riechen und ihren Duft in sich aufzusaugen. Er hielt es für das Beste, zu schweigen. Bei Lichte betrachtet, zog er es vor, heute der Lösung des Mordfalls ein Stück näher zu kommen und diesen Montesi zu treffen. Alles Weitere würde sich finden – vielleicht.
Nach zweieinhalb Stunden bogen sie von der A1 Richtung Montepulciano ab. Die Strecke ließ zwar das Herz jedes Toskanaliebhabers höher schlagen, doch eine Kurve jagte die nächste, und das verlangte einen gesunden Magen. Sie fuhren zügig, vorbei an riesigen Feldern voller gelb leuchtender Sonnenblumen, auf malerischen Zypressenalleen und durch zauberhafte kleine Dörfer, die zu einem Cappuccino oder einem Bruschetta oder Ähnlichem einluden. Für all diese Dinge hatten sie leider keine Zeit, auch wenn sich Huber seit letzter Nacht wünschte, mit der Frau, die nun entspannt auf seinem Beifahrersitz saß, eines Tages die Schönheiten Italiens in Ruhe erkunden zu können.
Nach drei Stunden Fahrzeit erreichten sie endlich die Schotterstraße, die sich zum Kloster emporschlängelte. Sie stellten den Wagen auf den Parkplatz, streckten sich einige Male und renkten ihre müden Knochen wieder ein. Dann gingen sie den Fußweg zum Kloster
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