Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Nase und ließ das Taschentuch unter seiner betagten Kutte verschwinden. Dann fuhr er fort. »Sechs Monate nach der Wahl des neuen Papstes fing der Zweite Weltkrieg an. Pacelli sollte eine Vermittlerrolle zwischen der britischen Botschaft und der deutschen Opposition übernehmen, doch in den folgenden Jahren zog sich Eugenio immer mehr in religiöse Betrachtungen und Studien zurück und verhielt sich dem Krieg gegenüber eher neutral. Ja, er tat so, als würde es ihn gar nicht geben. Er lebte hinter den Mauern des Vatikans wie auf einer kleinen beschaulichen Insel. Leider hat er auch dann noch geschwiegen, als katholische Brüder aus Rom deportiert wurden.«
»Was hat das Ganze denn nun mit der Heiligen Lanze zu tun?«, fragte Huber und versuchte zugleich, gegenüber diesem liebenswürdigen Pater seine alte Ungeduld zu zügeln.
»Langsam, junger Mann. Wir haben Zeit.«
Huber schaute auf die Uhr und stellte fest, dass dem nicht so war.
»Pacelli hatte für sich den Namen Pius gewählt, weil er sich, wie der Name ausdrückt, für wirklich fromm hielt. Pius, der Fromme. Fromm jedoch in dem Sinn, sich als Mann Gottes vornehmlich den Studien der heiligen Schriften zu widmen und das Volk Gottes an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen. Er las unglaublich viel, verfasste unzählige Artikel und liebte, wie so viele gläubige Menschen, symbolträchtige Reliquien. Eines Tages dann tauchten Hitler, Himmler, Ribbentrop und der Biograf Himmlers, ein junger Mann aus Deutschland, im Vatikan auf. Zu einer Zeit, als es schon genug Gerüchte über Gräueltaten gab. Ich war damals zwanzig Jahre alt, ein einfacher Bruder, und erst zwei Jahre zuvor aus Armenien gekommen.« Montesi griff an sich an die juckende Kopfwunde. »Sehen Sie, das ganze Dilemma des Schweigens Pacellis lag in dessen Persönlichkeit begründet. Er war nun mal keine Kämpfernatur wie Pius XI. Er war durch und durch Geistlicher und versuchte, der direkten Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Zugegeben, er hasste den Bolschewismus und hielt ihn für den größten Feind der katholischen Kirche – somit hatten Hitler und der Papst durchaus einen gemeinsamen Feind, den es zu bekämpfen galt.«
»Aber deswegen kann man sie doch noch lange nicht als Verbündete bezeichnen«, erwiderte Raphaela.
»Das sicher nicht, doch Eugenio zog es eben vor, einer Provokation aus dem Weg zu gehen. Wissen Sie, die Enzyklika ›Mit brennender Sorge‹ wurde nie veröffentlicht und liegt vermutlich bis heute in den Archiven des Vatikans. Wenn Sie wüssten, wie viele Dokumente aus dem Dritten Reich versiegelt gehalten werden … Niemals wird der Vatikan diese Schriften zugänglich machen, auch wenn die 70 Jahre um sind.«
»Wieso 70 Jahre?«, fragte Huber irritiert.
»Alle siebzig Jahre werden die Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Jedenfalls war es bisher so. Angeblich verwahrt der Vatikan die Unterlagen aus der Zeit des Faschismus vor allem, um noch lebende Zeitzeugen zu schützen. Nur sind damit auch solche Zeitzeugen gemeint, denen der Vatikan nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Ausreise aus Italien geholfen hat.«
»Stimmt. Ich erinnere mich. Das ging 1999 durch die Presse. Eine Historikerkommission wollte Zugang zu den Archiven haben und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen«, erinnerte sich Raphaela.
Montesi blickte in Raphaelas wachen Augen. »Nun, man hat ihnen zumindest nur das gezeigt, was dem Ruf der Kirche keinen Schaden zufügen konnte. Doch es stimmt, die Historiker fühlten sich für dumm verkauft.«
»Woher wissen Sie das alles, wenn sie doch nicht mehr katholisch sind und hier so einsam auf dem Land leben?«
»›In der Welt, aber nicht von der Welt‹, hat Jesus gesagt. Hier zu leben, heißt ja nicht zu verblöden. Es ist richtig, was Sie sagen. Die Kirche hat mich rausgeworfen, doch das kümmert die Brüder dort oben wenig. Ich trage, wie Sie sehen, immer noch eine Kutte. Und ab und zu bekomme ich eine Neue von meinen Freunden. Wir beten zusammen, lachen zusammen, weinen zusammen, lesen zusammen in der Schrift.« Montesi zuckte mit den Schultern. »Eigentlich besteht kein Unterschied zu früher, als ich noch bei ihnen wohnte. Für die Klostergemeinschaft bin ich ein Bruder im Herrn.«
Huber sah erneut auf die Uhr und drängelte ein wenig. »Zurück zur Lanze. Was geschah, als Hitler in Rom auftauchte?«
»Ach ja, die Lanze. Da waren wir stehengeblieben. Also es war so: Dieser junge Deutsche setzte sich zu mir. Er durfte nämlich an
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