Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
damals eigentlich genau passiert?«
Montesi fragte sich, warum er ausgerechnet diesen beiden jungen Menschen Dinge offenbaren solle, über die er so viele Jahre geschwiegen hatte. Doch dann sah er in Raphaelas Augen und sein Misstrauen verschwand auf sonderbare Weise. Ohne eine rationale Begründung dafür zu finden, mochte er diese Frau, und ihm war, als sei sie ihm sehr vertraut.
Huber unterbrach die Stille. »Es sind bereits zwei Menschen wegen dieser Lanze gestorben. Sie ist vor Kurzem aus Wien aus der Schatzkammer der Hofburg gestohlen worden. Und wir kommen jetzt gerade von einem gewissen Kardinal Gambrioni, der im Übrigen nicht besonders gut auf Sie zu sprechen ist.« Montesi blickte zu Huber auf, und in seinem Blick lag eine vor langer Zeit verdrängte Trauer. Huber fuhr fort. »Der Vatikan will die Lanze um jeden Preis für sich haben und auch eine Organisation mit dem sonderbaren Namen ›THE Lu‹ ist hinter ihr her. Was für eine Rolle dieser Schneider bei all dem spielt, ist uns leider noch nicht ganz klar.«
Montesi ließ ein leises Stöhnen hören. »Also schön. Ich vertraue Ihnen. Natürlich kenne ich die Zusammenhänge. Ich kenne auch diesen Pseudoorden ›THE Lu‹, und ich weiß um die inneren Angelegenheiten des Vatikans. Ich werde die Geschichte nun hoffentlich ein letztes Mal in meinem Leben erzählen. Ich bin dieser ewigen Vorwürfe und Anschuldigungen langsam müde.« Montesi blickte zu Huber und fuhr mit einem Hauch von Ärger fort. »Und glauben Sie mir: Wären Sie kein Commissario, würde ich Ihnen kein Sterbenswörtchen erzählen.« Er stand von seinem Stuhl auf, und seine Gesichtsfalten glätteten sich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns auf die Bank vor dem Haus setzen. Ich liebe diesen Blick in die sanften Hügel. Ich werde ihn vermissen, wenn ich einmal nicht mehr bin.«
Huber und Raphaela folgten dem ehemaligen Pater mit einer Tasse Tee in der Hand ins Freie. Er hatte recht. Die Aussicht war beruhigend und atemberaubend zugleich. Die grünen, noch nicht von der Sommerhitze verbrannten Hügel erstreckten sich kilometerlang und schienen im Horizont zu versinken. Ein feiner Dunst, ähnlich eines dünnen Schleiers, verharrte in der Ebene.
»Alles fing damit an, dass Eugenio zum Papst gewählt wurde. Am 3. März 1939. Seine Karriere begann aber eigentlich schon viel früher. Vor dieser Zeit war er nämlich Nuntius in München. Der neue Papst mochte die Deutschen sehr. Sein ganzes Streben und Trachten galt der guten Beziehung von Kirche und Staat, und er hat die Konkordatspolitik von Pius XI. entschlossen weitergeführt. Das Konkordat sollte das Verhältnis von Kirche und Staat für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg regeln. 1929 wurde Eugenio Kardinal, und 1930 wurde er von Pius XI als Kardinalstaatssekretär und damit als rechtlicher Vertreter des Papstes eingesetzt. Alsbald bekam er Kontakt zu Hitler und hoffte, mit den Nationalsozialisten ein ähnliches Abkommen aushandeln zu können, wie es der Vatikan 1929 in den Lateranverträgen mit der faschistischen Regierung Mussolinis getan hatte.«
»So ist das Reichskonkordat mit Franz von Papen entstanden?«, fragte Huber interessiert.
»Sind Sie über den Inhalt dieses Abkommens im Bilde?« Montesi war überrascht, dass Huber über diese Dinge Bescheid wusste. Huber massierte seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger und dachte nach. »Ich glaube, das Reichskonkordat sollte die materielle und institutionelle Stellung der katholischen Kirche im Dritten Reich sichern.«
»Das stimmt. Aber es bedeutete für den Vatikan einen Verzicht auf jegliche politische Betätigung des Klerus. Eugenio Pacelli hatte 1937 zusammen mit Pius XI. eine Enzyklika verfasst. Sie heißt ›Mit brennender Sorge‹. Man sagt, dass er mit dieser Schrift den Wahnsinn der Nazis verurteilen wollte, doch bei genauer Betrachtung war sie hauptsächlich gegen die Verletzungen des Konkordats gerichtet. Die Juden werden so gut wie nie darin erwähnt. Genaugenommen wird noch nicht einmal der Nationalsozialismus darin angesprochen, im Gegenteil: Die deutsche Jugend wurde aufgerufen, sich dem neuen Deutschland im Sinne der wahren Volksgemeinschaft anzuschließen, und Juden waren ja bekanntlich in dieser Volksgemeinschaft nicht erwünscht. Es ging also lediglich darum, die heilige katholische Kirche im Sturm nationalsozialistischer Übergriffe zu schützen und sie sicher in den Hafen des Beständigen zu führen.« Montesi machte eine Pause, schnaufte sich die
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