Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
entlang. Allmählich verflog auch Hubers Müdigkeit. An der Pforte hieß man sie herzlich willkommen.
Raphaela hatte sich eigens für diesen Besuch eine lange Hose und ein hochgeschlossenes T-Shirt angezogen, um das Sittlichkeitsgefühl der Mönche nicht zu verletzten. Trotzdem sah sie umwerfend aus. Huber war überzeugt, dass sie tragen könne, was sie wolle, und ihm immer gefallen würde.
Der Abt des Klosters geleitete sie zu einem schmalen Weg und zeigte auf ein kleines Gebäude, das circa 400 Meter vom Klosterkomplex entfernt lag. Huber und Raphaela bedankten sich und machten sich auf den Weg zu dem abgelegenen alten Steinhaus, das außerhalb der Klostermauern lag. Um nicht den Eindruck eines Überfalls aufkommen zu lassen, näherten sie sich dem kleinen Gehöft ohne Eile.
»Ist jemand zu Hause?«, rief Raphaela auf Italienisch, als sie vor dem Eingang standen. Nach einer Weile stolperte ein alter Mann aus dem Inneren des Hauses auf sie zu. Sofort fiel ihnen der Verband am Kopf des Alten auf. Ansonsten schien es ihm gut zu gehen. Er sah Huber und Raphaela in die Augen und beschloss, freundlich gesonnen zu sein.
»Ja bitte? Kann ich Ihnen helfen?«
Raphaela nahm die betagte Hand, die ihr zum Gruß entgegengestreckt wurde, und verbeugte sich tief.
»Nein, lassen Sie das bitte«, lachte der Mönch. »Ich bin nur ein einfacher Mann. Erweisen Sie mir bitte nicht mehr Ehre als mir zusteht.«
»Sind Sie Pater Montesi?«, fragte Huber ohne Umschweife, doch mit einem freundlichen Ton in der Stimme. Er stand vor dem Mönch, der, wie der Vatikansprecher gesagt hatte, von der katholischen Kirche viele Jahre zuvor ausgeschlossen worden war. Dennoch trug er eine Kutte. Huber hatte eine Menge Fragen.
»Montesi ja, Pater nein.«
»Mein Name ist Raphaela Grassetti, und dies ist Hauptkommissar Alois Huber aus Wien.« Huber zuckte unmerklich zusammen, als sein ihm verhasster Vorname erklang. Er griff nach seinem Dienstausweis und wollte ihn Montesi unter die Nase halten.
»Nein, nein, ist schon gut. Ich glaube Ihnen.« Huber und Grassetti nickten. »So viel Besuch, wie ich in den letzten beiden Tagen bekommen habe, hatte ich schon lange nicht mehr«, sagte er in noch gut verständlichem Deutsch. »Verzeihen Sie mir, wenn meine Aussprache nicht mehr so perfekt ist, aber ich bin ein wenig aus der Übung.«
Raphaela deutete auf den weißen Turban mit dem roten Fleck an der Seite. »Was ist passiert? Sind Sie gestürzt?«
»Kommen Sie erst einmal herein. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee könnte ich Ihnen machen.«
Raphaela und Huber folgten dem Einsiedler in die spartanisch eingerichtete Behausung. Das Mobiliar war mindestens so alt wie der Mann, wenn nicht älter.
»Wie lange leben Sie hier schon?«, fragte Raphaela.
»Mein ganzes Leben lang«, antwortete Montesi. »Na ja, fast mein ganzes Leben lang.« Er blickte an die Decke und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Eine halbe Ewigkeit jedenfalls, ich weiß es nicht mehr genau. Schön hier, nicht?«
Huber sah sich in dem dunklen Gemäuer um und stieß sich fast den Kopf am niedrigen Hauseingang.
Der Alte ließ Wasser in eine Teekanne einlaufen und zündete den Gasherd an. »Ein Commissario? Wie interessant. Kommen Sie wegen dieses Mannes?« Montesi deutete auf seine verbundene Kopfwunde. »Er glaubt bestimmt, dass ich tot sei. Ist vielleicht auch besser so, aber es geht mir gut.« Montesi hatte ein herzliches Lachen. »Unkraut vergeht nicht, so sagt man doch bei Ihnen.«
»Welchen Mann meinen Sie? Was ist passiert?«, fragte Huber, als er sich angesichts der malerischen Umgebung und der friedlichen Atmosphäre seiner dienstlichen Verpflichtungen bewusst wurde.
»Der Mann hieß Schneider. Ich kenne leider nur seinen Nachnamen. War ein Deutscher. Ich kannte mal seinen Vater vor sehr, sehr langer Zeit.«
Huber und Raphaela sahen sich bestürzt an. »Der war hier?«, polterte es aus ihr heraus.
Montesi nickte.
»Er hat die Tagebücher seines verstorbenen Vaters veröffentlicht, und Sie kommen auch darin vor«, bestätigte Huber. Montesi setzte sich auf einen Stuhl und ein ängstlicher Ausdruck bemächtigte sich seiner Gesichtszüge. »Werden jetzt noch mehr Menschen herkommen?« Er schüttelte den gesenkten Kopf. »Ich habe ihm gesagt, dass ich die Lanze nicht mehr habe«, fügte er leise hinzu.
Raphaela beugte sich zu Montesi vor und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Können Sie uns die Geschichte bitte noch einmal von Anfang an erzählen? Was ist
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