Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
das, was nicht offiziell gesagt werden durfte, und äußerte bisweilen scharfe Kritik. Er schrieb vieles auf, doch seine Manuskripte wurden stets über die Maßen zensiert. Ihm nachzueifern wäre sicher ein hohes Ziel, doch wie kann ich mit einer gerade einmal dreijährigen Redaktionserfahrung seinen Platz übernehmen? Natürlich ehrt mich das Angebot, und das habe ich Traunstein auch gesagt. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch ein wenig Angst, München zu verlassen. Traunstein meint, dass zurzeit in Berlin das politische Leben aufgezeichnet werden müsse – und er hat sicher recht damit, aber dann könnte ich Gudrun nicht mehr so oft sehen. Oh, mein Gott. Wenn Traunstein wüsste, wie sehr ich in seine Tochter verliebt bin! Vielleicht ahnt er aber auch schon etwas.
Schneider blickte über den Rand des Tagebuches und verengte die Augen zu einem dünnen Schlitz. Er saß regungslos da. Von einem Tag auf den nächsten war er zu einem Zeugen lebendiger Geschichte geworden. Hatte er seinen Vater je richtig gekannt? Wer war dieser Mann, der diese Zeilen verfasst hatte, der da seine Liebe zu einer gewissen Gudrun gestand? Damals vor über sechzig Jahren. So sehr Richard sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern, auch nur einmal den Namen »Gudrun« aus dem Mund seines Vaters gehört zu haben. Gudrun war aber offensichtlich die Frau, die sein Vater lange, bevor er Richards Mutter heiratete, geliebt hatte. Das bezeugten diese Zeilen. Seine Augen suchten die Stelle, an der er stehen geblieben war, und er versenkte sich tiefer und tiefer in die Geschichte des Deutschen Reiches und der damit verbunden Geschichte seines Erzeugers, von dem er geglaubt hatte, ihn zu kennen.
12. April 1939
Nach dreitägiger Bedenkzeit habe ich Traunstein zugesagt. Ich konnte nicht anders, denn ich sah, wie sehr ihm daran gelegen ist, dass ich diese Aufgabe übernehme. Er hat mich schon wieder in sein Büro gebeten und mich in sein Vertrauen gezogen.
Er lamentierte eine Weile herum – das kenne ich ja schon. Es ist wohl eine seiner Marotten, Wichtiges erst nach Unscheinbarem folgen zu lassen. Er betonte, dass er einen Korrespondenten brauche, der mit dem richtigen »Geist« beseelt ist und die nötige Wachsamkeit an den Tag legt. Ich zückte vor Verwunderung meine Brauen bis zur Stirn, und es ist mir bis zum heutigen Abend nicht gelungen, herauszufinden, was er damit meinte. Ich achte und schätze Traunstein als einen integren und aufrichtigen Mann und denke, dass er mit seinen sechzig Jahren so viel Lebenserfahrung gesammelt hat, dass er schon weiß, was er da sagt. Also ließ ich diese Äußerung widerspruchslos stehen und bewege sie vermutlich noch einige Zeit in meinen Gedanken.
Heute Nachmittag kam Gudrun zu Besuch in die Redaktion. Mir geht jedes Mal das Herz auf, wenn ich sehe, wie Vater und Tochter miteinander umgehen. Sie benehmen sich eher wie ein Liebespaar, natürlich ohne die diesbezüglichen Intimitäten. Ich meine vor allem die positive Art und Weise der Zuneigung, die sie in einer Zeit der augenscheinlich staatlich verordneten Gefühlskälte nicht vor anderen verbergen. Sie hat zu mir herübergeschaut und mich angelächelt. Mit blieb fast das Herz stehen vor Glück, und ich brachte keinen Ton heraus. Es ist kaum zu glauben, was für ein ungeschickter Trottel ich in Liebesangelegenheiten bin.
15. April 1939
Habe den Artikel über das Großdeutsche Reich und die Erweiterung der Lebensräume im Osten fertiggestellt. Traunstein war sichtlich beeindruckt, obwohl ich auch eine gewisse Unsicherheit in seinen Augen las, so, als fühle er sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass es tatsächlich einmal dazu kommen könnte. Nun, wie dem auch sei, die Führung fand den Artikel ohne Korrektur druckreif, und das will schon etwas heißen.
Schneider blickte fassungslos im Raum umher. Was um alles in der Welt, halte ich da in den Händen?, fuhr es ihm durch den Kopf. Diese Zeilen waren die ganze Zeit im Keller in dieser Truhe, um die sich Mama und Papa gestritten haben, und nie, auch nicht ein einziges Mal, hat er mit mir darüber gesprochen, dass er im Krieg mit Himmler zu tun hatte. Es ist einfach unglaublich.
Richard nahm den Band, in dem er las, und ging zur Couch hinüber. Er schaltete die Leselampe an. Seine Müdigkeit war wie verflogen und kein einziger Gedanke an die Firma bemächtigte sich seines Kopfes. Eine völlig neue Welt hatte sich ihm eröffnet und er gedachte, tiefer in sie einzutauchen – und wenn es die ganze
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