Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Nacht dauern sollte. Er machte es sich trotz seiner inneren Anspannung so gemütlich wie möglich, nahm den Finger aus den Seiten und las weiter.
17. April 1939
Ich kann es kaum glauben, aber heute hat Himmler schon wieder in der Redaktion angerufen.
Ich saß gerade bei Traunstein im Büro – das wird langsam zu einer netten Gewohnheit – als H. anrief. Traunstein zuckte zusammen, als er den Namen hörte, als stünde der spanische Inquisitor persönlich vor der Tür. Seine Augen weiteten sich und augenblicklich standen ihm die Schweißtropfen auf der Stirn, obwohl es wahrlich nicht gerade warm war im Büro. Ich hatte keine Zeit, mir Gedanken über seine abstruse Reaktion zu machen und eilte an den Apparat. Wieder lobte mich H. für meinen Artikel. Er war beeindruckt, welche Weitsicht aus meinen Zeilen spräche. Er fragte mich, ob ich nicht daran interessiert sei, die Leitgedanken des Großdeutschen Reiches in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Meine verzögerte Reaktion ließ ihn begreifen, dass ich seine Frage nicht verstanden hatte und so formulierte er sie noch einmal anders: »Wer werden die Bürger dieses Reiches sein und welche Ideale werden sie haben?«, fragte er mich. »Wessen Blut wird in ihren Adern fließen und welchem Führer werden sie folgen? Wer wird ihr Herr und Meister sein?«, setzte er noch hinzu und seine Stimme ließ mich frösteln.
»Nun, ich weiß natürlich nicht, ob ich Zeit für diese vielen großen Fragen aufbringen kann, denn Herr Traunstein braucht mich dringend in der Reaktion«, entgegnete ich unsicher.
»Sie werden doch demnächst für eine Zeit nach Berlin gehen und den ›Völkischen Beobachter‹ in der Hauptstadt unterstützen. Dann sollte das doch zu machen sein. Außerdem hätte ich große Freude daran, einmal ihr Roman-Manuskript zu lesen.«
Ich dachte sofort: Woher, um alles in der Welt, weiß Himmler von meiner Versetzung? Und vor allen Dingen, wie kann er von meinem Buch wissen? Mir wirbelten die Gedanken durch den Kopf. Und dann, so als hätte er in mein Hirn hineingeschaut, nahm er die Antwort vorweg.
»Der Chef des deutschen Verlags ist ein guter Freund von mir. Nun, er meinte, ich sollte den Roman mal lesen. Er würde meinen Neigungen entsprechen. Aber da er das Manuskript bereits an Sie zurückgeschickt hat, muss ich mich nun persönlich an Sie wenden.«
Ich stotterte und stammelte in den Apparat, dass es ihm sicher nicht gefallen würde und es bestimmt noch einige Male überarbeitet werden müsse, doch schließlich sagte ich ihm zu. Er ist der Erste, der mein Buch von sich aus lesen möchte. Aber muss es ausgerechnet der Reichsführer SS sein? Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber wirklich freuen soll. Das Ganze hat einen eigenartigen Beigeschmack …
28. April 1939
Deutschland kündigt das deutsch-britische Flottenbegrenzungsabkommen, leider auch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt. Worauf das hinausläuft, ist ja wohl klar.
Ich habe meine letzten Sachen zusammengepackt und bin noch einmal in die Redaktion gefahren, um mich von Traunstein und den Kollegen zu verabschieden. Natürlich hoffte ich, auch Gudrun zu sehen.
Auf den Straßen vor dem Redaktionsgebäude war die Hölle los. Brüllende Uniformierte sind mit Knüppeln durch die Gegend gelaufen und haben Menschen wie Vieh zusammengetrieben. Warum ist mir in der Kürze der Zeit nicht ganz klar geworden, aber ich vermute, es hängt mit diesem neuen Gesetz zusammen, das die Mietverhältnisse der Juden regelt. Es erlaubt die Räumung ihrer Wohnungen und sieht eine Zusammenlegung in sogenannte Judenhäuser vor. Vermutlich habe ich so etwas heute erlebt.
Als ich in der Redaktion ankam, herrschte dort helle Aufregung. In unserer Zeitschrift haben wir Zahlen veröffentlicht, nach denen von der jüdischen Bevölkerung – ungefähr 180 000 Menschen – im ehemaligen Österreich seit dem Anschluss an Deutschland, mehr als 100 000 in die USA und nach Palästina emigriert sind. Ich schätze, es werden nicht die letzten Juden gewesen sein, die in das Land ihrer Väter auswandern werden, sofern sie noch dazu kommen …
Der einzige Lichtblick dieses verwirrenden Tages war, dass ich Gudrun tatsächlich noch einmal gesehen habe. Sie machte auf mich einen sehr bedrückten Eindruck, und so habe ich schließlich allen Mut zusammengenommen und bin auf sie zugegangen. Sie hatte wieder die hübsche Schleife in ihrem blonden Haar, und mit jedem Meter, den ich ihr näher kam, nahm ich ihr bezauberndes Parfüm
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