Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
intensiver wahr. Ich reichte ihr die Hand, ohne ein Wort zu sagen und sah ihr, wie mir schien, stundenlang in die Augen. Ich bin als Journalist nun wahrlich nicht um Worte verlegen, doch bei ihr erkenne ich mich nicht wieder. Sie lächelte mich an und sagte mit einer Weichheit in ihrer Stimme, die ich so sehr liebe: »Es ist schade, dass du fortgehst. Pass auf dich auf.«
Dann gab sie mir in einem Augenblick, als sie sich sicher war, dass niemand zuschaute, einen raschen, sanften Kuss auf die Wange. Voll tiefer, innerer Bewegung stand ich da und sah ihr in die Augen. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und blickte schließlich verlegen zu Boden. Hätte ihr Vater uns nicht angesprochen, würden wir vermutlich noch immer so dastehen. Wie sehr habe ich diesen Kuss vor meiner Abreise gebraucht. Ich werde ihn bewahren, bis ich wieder in München bin und dann werde ich sie endlich fragen …
7. Mai 1939
Es hat einige Zeit gebraucht, mich einzuleben. Ich hoffe, dass es bald wärmer wird. Habe eindeutig genug von Regen und Kälte.
Gudrun und ich schreiben uns. Viel.
Die Menschen sprechen hier einen grauenhaften Dialekt. Habe bereits einige Artikel an Traunstein telegrafiert. Er hatte jedenfalls recht. Hier spielt sich das politische Leben ab. Habe schon Goebbels nebst Gefolge gesehen. Die meisten jubeln den Nationalsozialisten zu, doch ich gehe ihnen lieber aus dem Weg, außer wenn ich aus Informations- und Reportagezwecken mit ihnen zu tun habe. Die SA ist ein rüder Haufen, ein Schlägertrupp ersten Ranges, doch die SS macht ebenso wenig einen vertrauenserweckenden Eindruck. Ihre schwarzen Uniformen erzielen genau die Wirkung, die sie vermutlich innehaben sollen, nämlich Furcht und Respekt einzuflößen.
Schneider ließ, wie so viele Male zuvor, das Tagebuch auf seinen Schoß sinken, in ungläubigem Zweifel darüber, ob diese Zeilen tatsächlich von seinem Vater stammen konnten. Hätte er nicht nach dem Krieg darüber reden und seine Familie an seiner Geschichte teilhaben lassen müssen? Hätte er nicht seinen eigenen Sohn darüber in Kenntnis setzen müssen, was damals alles passiert war? Viele Fragen gingen ihm durch den Kopf. Er griff wieder zu den Büchern, die bislang mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben hatten. Es ging weiter am 23. August 1939.
23.Aug. 1939
Wer hätte das gedacht? Deutschland und Russland unterzeichnen einen deutsch-russischen Nichtangriffspakt. Ribbentrop ist eigens nach Moskau geflogen, um Molotow zu treffen. Es heißt, sie haben auch über die Aufteilung Polens verhandelt. Ich wurde schon stutzig, als vorgestern der Rundfunk spät abends sein Musikprogramm unterbrach und über diesen Pakt berichtete. Ich wollte es erst nicht glauben, doch jetzt ist es amtlich: Erzfeinde werden Freunde. Wie kann das sein? Wenn da nicht etwas anderes dahinter steckt? Goebbels, der bekennende Kommunistenfeind beschreibt mit Freude, wie sich die beiden Kontrahenten auf eine gemeinsame Außenpolitik geeinigt haben.
Ein wichtiger Tag: Ich habe heute Himmler getroffen. Eine schwarze Limousine wartete unten vor der Tür und zwei SS-Männer luden mich nüchtern und distanziert ein, in den Wagen zu steigen. Sie taxierten mich und wussten nicht so recht, wo sie mich einzuordnen hatten. Ob Himmler wohl weiß, dass ich weder in der HJ, noch in der Wehrmacht gedient habe? Ich bin froh, rein äußerlich den arischen Vorstellung zu entsprechen – abgesehen von meinem verkrüppelten Fuß, den ich aber zu verbergen weiß. Außerdem werde ich ihnen wohl kaum mitteilen, dass in meiner Familie nicht nur Deutsche zu finden sind …
Himmler empfing mich in seinem Büro in der Innenstadt Berlins. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, denn ich hatte diesen Mann, über den mehr Gerüchte kursieren als über den neuen Papst, noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Als ich ihm direkt gegenüberstand, bemerkte ich, dass er kleiner ist als ich, und es schien ihm unangenehm zu sein, zu mir aufzublicken. Er begrüßte mich mit einem Händedruck. Ich hatte von einem Mann, der solche Macht innehat, einen festeren Handschlag erwartet, doch seine Handinnenfläche war feucht und sonderbar weich. Es war mir unangenehm, sie in meiner zu halten, wenn auch nur für wenige Sekunden. Er schaute mich mit einem durchdringenden Blick an, als suche er etwas und fragte mich schließlich, wo ich das Manuskript hätte. In dem Augenblick fiel mir ein, dass ich es in der Aufregung tatsächlich vergessen hatte. Oh mein Gott,
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