Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
las, befiel mich mehr und mehr ein beklemmendes Gefühl. So als griffe jemand oder etwas nach meiner Kehle, um sie langsam zuzudrücken.
Da waren zahlreiche Bücher über Hexen und ihre Verfolgung im Mittelalter, über die okkulten Bräuche und Riten der Germanen sowie über die Verwirklichung der reinen Rassenlehre. Auch zeigte er mir ein Buch voller seltsamer Schriftzeichen und erklärte, dies seien Runen. Natürlich waren mir manche Zeichen bekannt, wie ja auch das Hakenkreuz ein Runenzeichen ist. Da waren soviele Bücher über Runenzeichen, Bücher, von denen ich einige auch in meinem Artikel über die Altgermanen erwähnt hatte, doch eine solche Fülle okkulter Schriften ist mir nie zuvor vor die Augen gekommen.
Des Weiteren besaß er viele Bücher über Tierzucht, die mir sehr zerlesen erschienen. Es ist schon seltsam, wie uneingeschränkt er mir Zugang zu seinen persönlichsten Gedanken gewährte, die in seiner literarischen Sammlung zum Ausdruck kommen. Fast eine Stunde lang ließ er mich die Bücher anschauen und schien mich dabei ganz genau zu beobachten. Ich sah ihn aus den Augenwinkeln: Die Arme verschränkt und den Blick auf mich gerichtet. Er taxierte meine Reaktionen und wägte möglicherweise ab, wie viel er mir anvertrauen könne, obgleich ich ja schon in seinen Büchern lesen konnte, wie in einem Spiegel seiner Seele.
Der Gipfel seiner Vertrauensseligkeit kam schließlich, als er mich fast zärtlich am Arm nahm und zu einer Sammlung kleinerer Bücher führte. Er stand dort zunächst wortlos vor dem Regal und mir schien, als streiften seine Gedanken weit zurück in eine Zeit, deren Fragen er bis zum heutigen Tag noch nicht beantwortet hatte. Nun, dieses Verhalten klärte sich bald auf: Die Bücher, die er mir zeigte, waren nämlich seine Tagebücher. Viele Bände mit gleichen braunen Einbänden, sorgfältig aneinandergereiht. Mich erstaunte, dass nicht ein einziger Band auch nur einen Millimeter hervorstand oder verrückt war. Wieder diese penible Ordnung, diese Pedanterie, als brauche er sie, um sich daran festzuhalten und zu orientieren.
Es waren insgesamt sechsundfünfzig Bände. Von 1910 bis 1924, alle drei Monate ein neues Buch. Vierzehn prall gefüllte Jahre »Heinrich Himmler« standen vor mir, doch auf die Frage, warum er danach nicht weitergeschrieben habe, bekam ich nur ein verklärtes Grinsen als Antwort. Was ist wohl 1924 passiert, dass ein junger Mann von 24 Jahren mit seiner Leidenschaft des Tagebuchschreibens abrupt bricht?
Fast ehrfürchtig zog er den ersten Band heraus – bedächtig und konzentriert, ohne die anderen Bücher zu berühren. Er blickte mir sanft in die Augen und reichte ihn mir, als wäre es das größte Geschenk an einen der liebsten Freunde. Ich gebe zu, ich war sprachlos und versuchte meinen Blick von seinen Augen zu lösen, doch wie durch einen Bann gehalten, war mir dies nicht möglich. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe mich H. in die Selbstbestimmung zurückentließ.
Ich hielt also den ersten Band in den Händen, meine Finger fest darum geschlossen, um ihn bloß nicht fallen zu lassen. Ich kann noch immer nicht mit Bestimmtheit sagen, was mir an Himmler nicht gefällt, aber der Geruch, den er verströmt, hat etwas Unangenehmes an sich. Weiterhin muss ich bekennen, dass ich mich als treuer Protestant in Dingen wie Okkultismus und Hexenglauben nicht auskenne. Aber so wahr mir Gott helfe, irgendetwas stimmt hier nicht!
Gegen drei Uhr nachts legte Schneider das erste Tagebuch beiseite. Er beschloss, gleich am nächsten Tag in das Haus seines Vaters zu fahren und die restlichen Bücher zu holen. Und erneut nahm er sich vor, seinen Vater anzusprechen. Am darauffolgenden Morgen würde er im Krankenhaus anrufen und sich nach dem Gesundheitszustand seines Vaters erkundigen. Wer weiß, wie lange er ihn noch würde fragen können?
Mit müden Knochen schleppte sich Richard die Treppe hinauf und legte sich ins Bett. Dort wälzte er sich unruhig auf seinem Kissen hin und her, weil das Gelesene wie ein Film vor seinem inneren Auge ablief. Er staunte über den Schreibstil seines Vaters und erinnerte sich daran, dass ihm diese Kunstfertigkeit früher aufgefallen war, wenn sein Vater Briefe und Geburtstagsreden verfasst hatte. Er wollte Schriftsteller werden, nein er war es. Hatte einen Roman geschrieben. Bin gespannt, ob das Manuskript auch in der Kiste ist.
Gegen fünf Uhr sank Richard in einen unruhigen, traumlosen Schlaf.
Es kam ihm vor, als wäre er gerade
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