Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
diese Fantastereien?« Schneider sah Blome an, beugte sich vor und sagte ärgerlich: »Dass es der Firma so schlecht geht, hast du mit Schilling verbockt.« Er klopfte auf den Einband des Tagebuchs. »Das hier ist mein Weg, uns da wieder raus zu holen. Wenn du eine bessere Idee hast, dann sieh zu, dass du in die Firma kommst und alles wieder gerade biegst.«
Blome wich verärgert zurück. »Ist ja schon gut. Mach doch was du willst. Du bist ja nicht mehr ganz normal.« Er stand von seinem Stuhl auf und griff nach seiner Lederjacke. Im Hinausgehen rief er Schneider zu: »Ich hoffe, du bist bald wieder bei Sinnen.« Dann ging er und schloss hinter sich die Tür, während Richard in der Küche sitzen blieb und begann, die Papiere zu sichten, die Blome ihm mitgebracht hatte. Die Firma war in diesem Augenblick das Letzte, woran er denken wollte.
Eifrig blätterte er den dicken Stapel durch und war erstaunt, wie gut sein Mitarbeiter Ralf Friehling gearbeitet hatte. Die Mappe umfasste schätzungsweise drei- bis vierhundert Seiten. Natürlich hätte er die Recherche auch selbst erledigen können, aber erstens delegierte er Aufgaben gern an andere und zweitens wollte er keine Zeit verlieren.
Mit zunehmendem Durchblättern des Materials wuchs Schneiders Erregung. Da waren Schriften von diversen Herrschern und Kriegsherren, die die Lanze im Kampf mit sich getragen und siegreich das Schlachtfeld verlassen hatten. Dokumente, aus denen hervorging, wie die Lanze von einer Generation an die nächste weitergereicht worden war, und Hinweise darauf, dass der Ruhm und die Ehre bestimmter Familien ausschließlich auf den Besitz der kostbaren Reliquie zurückgeführt werden konnte. Sogar Heinrich I., der Ottonenkönig, sollte sie besessen und damit die Einfälle der Ungarn erfolgreich verhindert haben.
Schneider blickte auf. Jetzt wurde ihm einiges klar. Sein Vater hatte doch geschrieben, dass Himmler sich für die Reinkarnation von Heinrich I. hielt. Deshalb war er auch so verrückt danach gewesen, die Lanze zu besitzen.
Dann fiel Schneider etwas ein. Unvermittelt sprang er auf, rannte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Dachboden. Neben altem Gerümpel, Gartenmöbeln und Computern, die kein Mensch mehr haben wollte und deren Entsorgung er bisher noch nicht erledigen konnte, fand er drei Kartons, randvoll mit Büchern aus seiner Jugend. In einem Anfall von Sentimentalität hatte er die mal aus dem Haus seiner Eltern abgeholt. In der ersten Kiste wurde er nicht fündig. Dann nahm er sich die Zweite vor und fand, wonach er suchte. Auch er besaß nämlich eine alte Bibel, die ihm seine Mutter zur Konfirmation geschenkt hatte. Ganz vorne, im Deckel des Einbandes, stand eine Widmung seiner Mutter:
Meinem lieben Sohn Richard
Möge Gott durch dieses Buch – sein Wort –
auch zu dir reden
Deine Mutter
Schneiders Augen blieben an dieser Widmung hängen. Längst verschollene Gefühle erfassten ihn, und er spürte, das die Vergangenheit ihn einholen wollte. Er hasste Sentimentalität. Er verließ den mit zarter Hand beschriebenen Klappeneinband und blätterte die Seiten um, bis er das Neue Testament fand. Er wusste aus seiner Kindheit und Jugend nicht viel über die Bibel, gerade noch, dass es zwei Testamente gab und dass dieser Jesus im Neuen Testament zu finden war. Dieser Feigling, der sich ans Kreuz schlagen ließ, ohne zu kämpfen oder die geringsten Anstalten zu machen, sich zur Wehr zu setzen. Richard erinnerte sich daran, dass es eine Zeit gab, in der ihm dieser Jesus sympathisch gewesen war, damals, als seine Mutter Abend für Abend aus einer Kinderbibel Geschichten über Wunder und Heilungen vorgelesen hatte. Und als er begann, Jesus zu mögen, war seine Mutter gestorben, einfach abgehauen. Hatte sich verdrückt, wie dieser Gottessohn.
Verfluchter Mist , schoss es ihm durch den Kopf, wo ist diese Stelle mit dem Legionär ? Er fand sie im Johannesevangelium, Kapitel 19: »Weil Rüsttag war und die Körper während des Sabbats nicht am Kreuz bleiben sollten, baten die Juden Pilatus, man möge den Gekreuzigten die Beine zerschlagen und ihre Leichen dann abnehmen; denn dieser Sabbat war ein großer Feiertag. Also kamen die Soldaten und zerschlugen dem Ersten die Beine, dann dem andern, der mit ihm gekreuzigt worden war. Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser
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