Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
einziges Schauspiel war, eine große Lebenslüge, die er mir vermittelt hat. Wenn das wahr wäre, dann hätte ich in seiner Biografie letztlich eine schizophrene Persönlichkeit skizziert, ja, mich all die Zeit mit einem Trugbild beschäftigt? Hätte Himmler mich wissentlich belogen? Ich verstehe bald gar nichts mehr. Möglicherweise glaubt er tatsächlich an den heroischen Heinrich, den er nach außen hin darstellt. Ich gebe zu, dass ich selbst nach vielen geschriebenen Seiten noch immer keinen Konsens in seiner Persönlichkeit gefunden habe. Aber ich bin eben auch kein Psychologe.
Schneider legte das letzte Buch, das er aus dem Haus des Vaters geholt hatte, beiseite und ärgerte sich, dass er nicht gleich alle Bände in seinen Kofferraum gebracht hatte. Er stopfte sich sein verschwitztes und mittlerweile übelriechendes Hemd halbherzig in die Hose und machte sich auf den Weg. Es war gegen Mittag.
Ohne Umschweife und ohne jedwede sentimentale Gefühle ging er in seinem Elternhaus in den Keller und suchte die letzten Bände. Er schlug den Deckel der Truhe mit einem Knall zu, so als sei sie schuld daran, dass sein Leben aus den Fugen geraten war. Sein Denken kreiste nur noch um die Lanze, und in seinem Kopf formierte sich ein Plan, wie er sie in seinen Besitz bringen könnte. Er wollte diese Reliquie besitzen, aber mit Sicherheit nicht, um sie dann wieder aus den Händen zu geben, erst recht keiner mysteriösen Bruderschaft. Es schien, als hätte die Lanze ihrerseits schon von ihm Besitz ergriffen, obwohl er sie nie in den Händen gehalten, geschweige denn sich mit der Spitze den Finger blutig geritzt hatte.
Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er nach Hause zurück und gab sich der Lektüre der letzten Bände sowie der Unterlagen hin, die Blome ihm gebracht hatte.
12. März 1941
Habe heute einen weiteren Brief von Montesi erhalten. Er lädt mich ein, ihn in seinem Kloster in der Toskana zu besuchen. Er bekommt dort wohl nur sehr wenig vom Krieg mit. Er schrieb, hier wäre auch ich sicher. Er ist besorgt um mich und fordert mich erneut auf, mich aus der Gesellschaft Himmlers zurückzuziehen. Viele Dinge um mich herum sehe ich in den letzen Monaten tatsächlich in einem anderen Licht. Wer oder was hat mir die Augen geöffnet? Ich weiß es nicht. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass es mir gelingen könnte, aus Deutschland abzureisen.
Vor allen Dingen: Wie sollte ich Himmler klar machen, dass ich nicht länger an seiner Biografie schreiben kann? Gerade diese Biografie ist ihm nämlich auf einmal wieder immens wichtig. Er setzt alles daran, dass ich sie beende. Er spricht davon, unsterblich sein zu müssen, so als sähe er das Ende seiner irdischen Existenz schon nah herbeigekommen zu sein. Ich gebe zu: Dieser Mann macht mir schon lange Angst. Wie soll ich mich ihm bloß entziehen? Ich werde mir Montesis Vorschlag durch den Kopf gehen lassen und ihm zurückschreiben. Vielleicht ist die Flucht aus Deutschland meine einzige Chance. Von Montesi weiß Himmler jedenfalls nichts.
14. März 1941
Habe mir endlose Gedanken über Montesis Worte gemacht und bin schließlich gestern Abend per Anhalter aus Berlin raus gekommen. Dann konnte ich mit dem Zug weiterfahren. Habe es tatsächlich nach fünfzehn Stunden geschafft, nach München zu kommen. Niemand machte den Versuch, mich aufzuhalten. In meinem Koffer waren die nötigsten Kleidungsstücke, und in einem alten Seesack versteckte ich zwischen schmutzigen Hosen und Hemden mein Schreibzeug, die Tagebücher und die unvollendete Biografie Himmlers.
Nun suche ich fieberhaft nach Gudrun. Kaum habe ich mich aus dem Dunstkreis Himmlers entfernt, werde ich zum Glück nur noch von klaren, nüchternen Gedanken beherrscht. Es war das Richtige, Berlin verlassen zu haben. Fast pausenlos denke ich an Francesco, an seine Reaktion auf die Lanze und seine eindrückliche Warnung, die Finger von ihr zu lassen. Der Gedanke, große Macht zu haben ist selbstverständlich verlockend, doch wenn ich sehe, welch sonderbaren Züge Himmlers Charakter angenommen hatte, möchte ich Montesi gern Glauben schenken.
Habe Flugblätter von der ›Weißen Rose‹ im Rinnstein gefunden, einen ganzen Stapel und ich kann nicht glauben, was ich dort lese. Wenn Traunstein und seine Tochter dies tatsächlich mit verfasst haben, hoffe ich, dass sie sich irgendwo verstecken, wo die SS sie niemals findet.
17. März 1941
Die Wahrheit ist so furchtbar, dass es mir schwerfällt, darüber zu schreiben, doch
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