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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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mit geschnittenem Landbrot mit und setzte sich in seinen Sessel. Die Milch stellte er geistesabwesend auf dem Beistelltisch ab, denn schon lag ein weiterer Band der Tagebuchreihe in seinem Schoß. Er schlug die erste Seite auf und begann zu lesen.
    15. Dez. 1940
    Zurück in Berlin ist nichts mehr, wie es war. Ich sitze zwar immer noch regelmäßig in Himmlers Bibliothek, aber es scheint, als habe er sein Interesse an mir und, wie mir Fr. Potthast glaubhaft vermittelt, auch am Rest der Welt verloren. Sein Finger ist übrigens noch immer bandagiert. Die Wunde scheint schlecht zu heilen. Er faselt von Verrat an ihm, dem treuen Heinrich und von Vertrauensbruch. Ich schätze, er meint Hitler damit. Ich glaube, er hat es Hitler nicht verziehen, dass der dem Papst die Lanze, seine Lanze, gegeben hat. Wenn man längere Zeit in Himmlers Nähe verweilt, gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass er den Verstand verloren hat. Mein Aufenthalt in seinem Haus wird daher immer unerträglicher.
    Ich habe Francesco einen langen Brief geschrieben. Auch, weil ich so verwirrt bin, seit ich aus Rom zurückkam. Ich habe ihm alle meine Gedanken und Fragen geschrieben, und ich hoffe, dass er zurückschreibt. Ich versuche auch, zu meiner Arbeit als Journalist zurückzukehren. Eine gehörige Portion »Normalität« wird mir helfen, ein wenig Abstand von Himmler zu bekommen – sofern er mir diesen Abstand gewährt.
    19. Jan. 1941
    Hitler und Mussolini vereinbaren, die bisherige Kriegsführung aufzugeben und stattdessen im Mittelmeerraum gemeinsame Sache zu machen.
    20. Febr. 1941
    Man hört vereinzelt von Euthanasieprogrammen, in denen angeblich sogenannte »Ballastexistenzen« in Euthanasie-Anstalten überführt und dort kaltblütig ermordet werden. Das ist nun wirklich schwer zu glauben. Und wenn es stimmt, wie will man denn die Grenze ziehen und entscheiden, wer noch als normal gilt und wer schon krank ist. Bei welcher Behinderung fängt die Auslese an? Gehört mein verkrüppelter Fuß schon dazu? Wohl kaum.
    3. März 1942
    Habe heute endlich Post von Francesco erhalten. Er antwortet mir auf viele meiner Fragen und ist erfreut, einem Suchenden, wie er mich nennt, hilfreich zur Seite stehen zu können. Doch wenn er über sich selbst spricht, entdecke ich eine tiefe Traurigkeit, ja Verärgerung in seinen Worten. Ohne den genauen Grund zu nennen, schreibt er, dass er fortan in einem Kloster leben wird. Der Papst habe es so gewollt. Dann enden seine Zeilen mit einem ›Leb wohl‹. Schade, dass der Kontakt so schnell abbricht. Ich hätte in Zeiten wie diesen einen Freund gut brauchen können.
    Meine Besuche bei Himmler werden seltener, und ich kann nicht gerade sagen, dass ich unglücklich darüber bin. Manchmal ist er froh, dass ich da bin, ein anderes Mal ignoriert er mich völlig oder scheint sich zu freuen, wenn ich wieder gehe. Sein Geisteszustand verschlechtert sich fortwährend, doch es scheint, als ob nur ich und Frau Potthast dies bemerken. Wenn Himmler in der Öffentlichkeit auftritt, spielt er eine perfekt einstudierte Rolle, sodass niemand bemerkt, wie es wirklich um ihn steht. Doch wenn er allein ist oder zumindest glaubt, es zu sein, höre ich aus dem Zimmer, in dem ich sitze und schreibe, wie er Selbstgespräche führt oder mit sonst irgendjemandem redet. Wenn ich so darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass Himmlers Wesensveränderung an jenem Tag eine dramatische Wende genommen hat, an dem wir in der Wewelsburg waren und er die Lanze geholt hatte.
    Was mir ebenfalls viel Kopfzerbrechen bereitet ist, dass ich Traunstein und Gudrun schon seit Monaten nicht mehr gesprochen habe. Ich verzehre mich nach Gudrun und mache mir schwere Vorwürfe, dass ich nicht auf sie gehört habe. Das Letzte, das ich von ihnen hörte, war, dass sie Flugblätter geschrieben und gedruckt und sie zusammen mit Münchner Studenten verteilt haben sollen. Sie rufen zum Widerstand gegen das NS-Regime auf und bringen sich und ihre Freunde in große Gefahr. Ich bin davon überzeugt, dass niemand ein solch fundiertes Verständnis der Politik dieser Jahre hat wie Traunstein. Er müsste doch wissen, wie gefährlich es ist, sich derart zu exponieren. Die Widerständler verbreiten Geschichten über Massenexekutionen und Judenvernichtungspläne. Aber: Ich habe viele Monate in der Bibliothek des zweitmächtigsten Mannes im Reich verbracht. Hätte ich nicht aus erster Quelle mitbekommen müssen, was wirklich im Land passiert? Es sei denn, dass das alles ein

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