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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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unbeantwortet. Er muss es irgendwie geschafft haben, dachte er.
    Schneider suchte weiter. Doch so sehr er sich auch bemühte, er fand kein Tagebuch, das die Lücke zwischen 1941 und 1945 auffüllte. So nahm er sich den letzten Band mit der Aufschrift »1945«, schlug ihn auf und bemerkte gleich, dass dieser Band nur zu einem Drittel beschrieben worden war.
    3. August 1945 Berlin
    Bin nach Berlin zurückgekehrt. Ob es eine kluge Entscheidung war, Deutschland den Rücken zuzukehren, weiß ich nicht. Ich lebe noch, das scheint mir im Angesicht der Millionen von Kriegsopfern das Wichtigste, und doch fühle ich mich als Verräter und Feigling.
    Die Phase Himmler ist ja nun ein für alle Mal beendet. Für mich war sie es schon an dem Tag, an dem ich nach Italien flüchtete. Verrückt: Die Alliierten sind in Berlin. Hitler hat, bevor er sich eine Kugel in den Kopf jagte, von Himmlers Verhandlungen mit London gehört. Himmler wollte tatsächlich einen Separatfrieden mit den Westmächten aushandeln, die ihn natürlich ausgelacht haben. Er hat Hitler also doch nicht die Treue gehalten, wie er es immer hoch und heilig geschworen hat. Als Hitler davon erfuhr, soll er wie ein Wilder in seinem Bunker getobt haben. Himmler ist nach Norddeutschland geflohen. Angeblich hat man ihn in der Lüneburger Heide in der Uniform eines Feldwebels geschnappt.
    Von mir nimmt niemand Notiz. Zum Glück bringen mich die Alliierten auch nicht mit der Führung der NSDAP in Verbindung. Ich war ja nur ein kleiner Zeitungsmann, einer, der schon vor Jahren seinen Posten beim »Völkischen Beobachter« gekündigt und die letzten Jahre in Italien im Kloster gelebt hat. Vorher war ich das ein oder andere Mal mit Himmler zusammen, aber das ist ja an sich noch nicht kriminell. Und doch lässt mich das Gefühl nicht los, schuldig zu sein. Es hat mich fest im Griff, obwohl mich Montesi von jeder Schuld an Gudruns Tod freisprechen wollte. Aber mein Gewissen belasten ja nicht nur Gudrun und ihr Vater. Ich kann nicht sagen, zu welchem Zeitpunkt ich geahnt habe, dass die sogenannten Partisanen, Staatsfeinde oder wie man sie sonst noch nannte, nicht nur inhaftiert und verschleppt, sondern systematisch umgebracht wurden. Tatsache ist, dass ich es in mein Bewusstsein hätte eindringen lassen sollen, spätestens nachdem Himmler mir diesen widerlichen Stuhl aus Gebeinen von Juden gezeigt hatte – und Hitlers »Mein Kampf«, eingeschlagen in Menschenhaut.
    Warum habe ich bloß all die Jahre geschwiegen? Gudrun und ihr Vater haben es nicht getan und ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt. Ich muss einen anderen Preis zahlen: ein Leben in dem Wissen, dass ich friedlich in der Bibliothek eines Mörders gesessen, Magentee getrunken und über seine menschenverachtenden Anspielungen hinweggehört habe. War es mein Stolz oder mein Ehrgeiz, der mich getrieben hat? Nein, es war mein Machthunger, der mich ins Verderben gestürzt hat. Ich hatte zu viel Hunger nach Macht, das erkenne ich jetzt. Darum bin ich schuldig, auch wenn ich dafür vermutlich nie angeklagt werde.
    6. August 1945
    Niemand weiß hier etwas mit mir anzufangen. Ich laufe durch die Straßen und betrachte das Elend weit und breit. Ich bin ein einfacher Bürger ohne Hab und Gut. Und doch war ich ein elender, feiger Mitläufer, der sogar mehr wusste als die meisten anderen. Schließlich saß ich an der Quelle, selbst wenn dort nie offen über Mord und Vernichtung gesprochen wurde, sondern immer nur über »äußere Auslese, geführte Auswahl und Ausmerzung des Schwachen und Untauglichen«. Nun: Wollte man all jene, die etwas wussten oder ahnten und geschwiegen haben, inhaftieren, dann gehörte halb Deutschland ins Gefängnis.
    Alles liegt in Schutt und Asche und ich frage mich, wie ein Wiederaufbau bei solch einer Zerstörung möglich sein soll. Ich habe etwas wieder gut zu machen und darum werde ich mich mit all meinen Kräften am Wiederaufbau beteiligen.
    Welch eine Courage haben Leute wie Traunstein, Gudrun, Scholl und Bonhoeffer und viele andere an den Tag gelegt? Ich werde Himmlers Biografie gewiss nicht beenden, obwohl nur wenige Jahre fehlen. Ich werde sie niemals einem Verlag anbieten und sie auch niemals zum Druck freigeben. Und ich habe noch etwas beschlossen: Von mir wird man nie wieder etwas lesen – abgesehen vielleicht von diesen Tagebüchern, wenn ich einmal nicht mehr bin.
    Ich persönlich glaube nicht, dass Himmler jemals ernstlich daran gedacht hat, meinen Roman einem Verlag anzubefehlen. Er wird

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