Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
daher nie erscheinen und vermutlich ist das auch besser so. Denn durch die unselige Neigung zum Schreiben bin ich ja überhaupt Journalist geworden und habe dadurch einen Teil meines Lebens mit der Biografie eines größenwahnsinnigen Irren vergeudet. Es ist mir richtig zuwider, dass ich die Geschichte eines Massenmörders niedergeschrieben habe, noch dazu die des Mörders meiner Liebsten. Wie viele Millionen wohl in diesem Krieg ihr Leben gelassen haben? Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn diese Lanze in meinen Besitz gekommen wäre. So vielen vor mir hat sie geholfen, warum nicht auch mir?
Wie mein Leben in Zukunft aussehen wird, ist schwer zu sagen. Ich habe alles verloren, was mir lieb und teuer war, vor allem meine Gudrun. Und doch kann ich dankbar sein, dass ich überhaupt noch am Leben bin, zumindest körperlich. Denn etwas in mir ist gestorben. Vielleicht werde ich Beamter in einem wiedererstarkten Deutschland, gehe zur Bank oder zur Post – wer weiß das schon. Nach diesen Zeilen werde ich die gesamte Biografie des zweitberühmtesten Handlangers des Teufels ins Feuer meines kleinen Ofens werfen und ihr einziger Sinn wird darin bestehen, mich für wenige Minuten gewärmt zu haben.
Karl Wilhelm Schneider am 6. August 1945
Ein letzter Nachtrag. Heute wurde von den US-Streitkräften unter dem Kommando von Paul Tibbet eine Atombombe über Hiroshima abgeworfen. Erste Bilanz: 90 000 Tote. Und: 80 Prozent aller Gebäude sind zerstört. Wann hört dieses Töten endlich auf?
X
Professor Smiths Gedanken kreisten um die eine entscheidende Frage, wie dieser Fall am elegantesten zu lösen sei. Für seinen Geschmack war er entschieden zu mysteriös. Es gab einen Toten, der aller Wahrscheinlichkeit nach vor 2000 Jahren mit einer römischen Lanze ermordet worden war und doch konnte man gleichzeitig seinen Todeszeitpunkt glaubwürdig auf ein wesentlich jüngeres Datum festlegen. Es war zum Verrücktwerden. Der Professor fand keinen Anhaltspunkt, der ihn einem vernünftigen Ergebnis ein kleines Stück näher brachte. Als er aus seiner Versenkung auftauchte, nickte er. »So machen wir es. Bis die Ergebnisse aus Harvard zurück sind, werden wir jeden Zentimeter der Höhle genau inspizieren.«
»Ich könnte einen Geologen beauftragen, das Gestein zu analysieren. Ein ehemaliger Studienkollege von mir, der garantiert dicht hält«, sagte Mosche.
»Das wäre eine gute Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Alles ist hilfreich, was Licht in dieses ominöse Dunkel bringt.« Smith schaute auf seine Armbanduhr. »Seien Sie mir bitte nicht böse, aber jetzt bin ich wirklich erschöpft. Bei solchen Gelegenheiten merke ich, dass ich keine vierzig mehr bin. Damals haben wir bis spät in die Nacht diskutiert, aber heute …«
Mosche schob den Stuhl zurück, um Smith aufzuhelfen.
»Danke, sehr freundlich.«
Smith und Lea standen im Eingangsbereich, und Mosche wollte ihnen gerade die Tür öffnen, da hielt Smith ihn zurück. »Ich möchte Sie im Übrigen beide noch einmal bitten, zunächst absolutes Stillschweigen jedermann gegenüber zu bewahren. Niemandem von der Presse, noch nicht einmal Ihrer Frau dürfen Sie etwas erzählen, Mosche!«
Mosche nickte. »Das ist kein Problem. Meine Frau weiß um die Brisanz der Funde, die wir entdecken. Das ist immer so.«
»Ach, und bevor ich es vergesse – die Mahlzeiten waren hervorragend. Würden Sie das bitte Ihrer Frau ausrichten? Ich liebe dieses koschere Essen.« Smith klopfte sich auf seinen vorgewölbten Bauch und gab Mosche die Hand. »Ich schätze, wir sehen uns noch sehr oft, solange ich in Israel bin. Vielleicht nehmen Sie mich ja mal mit in die Synagoge, wenn Sabbat ist.«
Mosches Augen funkelten. »Das würde ich sehr gern tun. Vielleicht am kommenden Freitag?«
Smith nickte. »Das wäre schön. Machen Sie es gut.«
Smith war in Windeseile in seinem Bett verschwunden, nachdem Lea ihn vor dem Hospiz abgesetzt hatte. Flach auf dem Rücken liegend, betrachtete er die Rotorblätter des Ventilators über sich, die unermüdlich Runde um Runde zurücklegten. Die Gedanken wirbelten in ähnlicher Weise durch seinen Kopf, doch die Müdigkeit war stärker als alle Ungereimtheiten zusammen.
Am nächsten Tag fanden sich zwei leitende Angestellte des archäologischen Instituts ein, um sich den drei Toten zu widmen. Mit äußerster Vorsicht wurden verschiedene Knochenteile steril verpackt und katalogisiert. Das Fersenbein und der Unterkiefer der Leiche
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