Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
ich muss es tun, um es der Nachwelt zu erhalten. Ehemalige Kollegen aus der Redaktion haben mir erzählt, dass Traunsteins ganze Familie von SS-Leuten abgeholt worden ist. Sie sind vermutlich in ein KZ gebracht worden. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, doch alle anderen, die die Widerstandsbewegung in München ins Leben gerufen haben, sind standrechtlich erschossen worden. Ich mache mir große Vorwürfe. Ich hätte nie nach Berlin gehen dürfen. Sollte Traunstein in allen Punkten recht gehabt haben? Ich hätte doch bei Gudrun bleiben sollen, dann wäre alles bestimmt ganz anders geworden.
30. März 1941
Ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte. Ich muss jetzt sehr vorsichtig sein, weil ich fast zwei Wochen lang versucht habe, jeden nur erdenklichen Kontakt aus früheren Zeiten wiederherzustellen – jedenfalls weiß ich jetzt, wer für die Verhaftung von Traunstein und seiner Familie verantwortlich ist. Kein Geringerer als der Reichsführer SS Heinrich Himmler persönlich. Ich vermute dass er, kurz nachdem ich Berlin verlassen und ihn sitzen gelassen habe, den Befehl zur Deportation gegeben hat.
Ich spüre tief in meinem Inneren, dass Gudrun sich in großer Gefahr befindet oder vermutlich schon nicht mehr lebt. Auch ihr Vater nicht, vermutlich umgekommen mit vielen Tausenden – ach was rede ich, Zehntausenden von Andersdenkenden in diversen Vernichtungslagern, die als Arbeitslager getarnt sind. Zusammen mit den Juden, die weiterhin für alles Schlechte in der Welt verantwortlich gemacht werden. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht nur deshalb den Neid der ganzen Welt auf sich lenken, weil sie behaupten, Kinder des einzig wahren Gottes zu sein. Der Kampf scheint sich in Wirklichkeit gar nicht gegen die Juden als Volk zu richten. Francesco hat recht, wenn er sagt: »Es ist der ewige Kampf des Bösen gegen Gott.« Dabei bedient sich das Böse, oder sollte ich besser sagen der Böse, menschlicher Marionetten, die er vollständig ausgehöhlt hat und die er am Ende, wenn sie sein grausames Werk vollbracht haben, fallen lässt wie faule Früchte. Ich gebe zu, dass ich völlig verzweifelt bin und nur noch Unsinn rede.
Kann ich mich tatsächlich in diesem Mann so getäuscht haben? Ich gebe zu, meine Haltung Himmler gegenüber war stets schwankend, und ich war Opfer vielfältiger Hirngespinste, doch mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass er tatsächlich eine Meistermarionette des Teufels war und noch ist?
20. April 1941
´Habe die Stadt ein letztes Mal nach Traunstein und Gudrun abgesucht. Vielleicht bin ich ja einer Falschmeldung aufgesessen – ich hoffe es so sehr. Und so etwas wäre in Zeiten wie diesen durchaus möglich.
Ich habe keine Ahnung, wo ich hin soll. Zurück nach Berlin kann ich nicht. Ich habe alle meine Habseligkeiten in der Wohnung zurückgelassen. Vermutlich hat die SS sowieso schon alles auf den Kopf gestellt. Ich bin mir sicher, dass mich einige SS Leute besuchen und freudestrahlend abführen würden, wenn ich auch nur in der Nähe meiner Wohnung auftauchen würde. Vermutlich sogar die gleichen Männer sein, die mich stets zu Himmlers Haus gefahren haben.
Himmler kann ich nicht mehr unter die Augen treten, das ist klar. Wenn es stimmt, dass er persönlich für die Verhaftung Traunsteins verantwortlich ist, dann stimmt auch alles andere, was über ihn und den Krieg gesagt wird. Dann ist er tatsächlich ein gefühlloses Monster.
In München kann ich aber auch nicht bleiben. Ich bin mir sicher, dass die SS längst nach mir sucht, und meine alte Wohnung hier in München ist völlig zerstört.
21. April 1941
Dies werden vermutlich die letzten Zeilen in meinem Tagebuch sein. Ich habe mich entschlossen, der Einladung Francescos zu folgen und erst einmal Zeit in Italien zu verbringen.
In der nächtlichen Luft schwirren britische Bomber wie ein Schwarm Heuschrecken – die biblische Plage über Deutschland nimmt ihren Lauf. Wie werde ich es bloß schaffen, nach Italien zu kommen?
Richard Schneider schlug die Lektüre zu, das er zu Ende gelesen hatte, und wühlte auf dem Wohnzimmertisch in den vielen Bänden, die er aus der Wohnung geholt hatte. Er suchte fieberhaft nach jenem Buch, das sich chronologisch an dem Letzten anschloss, doch er fand es nicht. Er überlegte, ob noch ein weiterer Band in der Truhe liegen könnte. Er war sich sicher, dass er alle Hefte mitgenommen hatte. Die Frage, wie sein Vater nach Italien gekommen war, brannte in ihm, blieb jedoch
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