Hueter Der Macht
Marcel ab.
Marcel seufzte kaum hörbar und sah an Thomas vorbei auf einen unsichtbaren Gegenstand jenseits des winzigen Fensters.
»Ich möchte Euch erzählen«, sagte er, »wer ich bin.«
Thomas kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
Marcel richtete den Blick wieder auf den Mönch. »Und was ich tue. Kommt mit. Bitte.«
Der Vorsteher drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Thomas warf sich den Umhang über die Schultern und folgte ihm.
Lange Zeit sagte keiner von beiden ein Wort.
Thomas war in einem Zimmer in dem Haus gefangen gehalten worden, in das Daumier ihn zwei Wochen zuvor gebracht hatte, und Marcel führte ihn nun durch ein Labyrinth von Gängen, durch die Haustür und auf die engen, gewundenen Gassen der Stadt hinaus.
Überall waren Menschen unterwegs – es war ein normaler Arbeitstag –, aber die Stimmung war düster und trübe. Das war nicht das Stimmengewirr und Gelächter, das Thomas normalerweise mit einer geschäftigen Markt- und Handwerksstadt verband, sondern es herrschte eine gedrückte Stimmung, die von den Menschen auf der Straße ausging.
Mehrere von ihnen grüßten Marcel ehrerbietig, doch Thomas bemerkte, dass sich hin und wieder ein Gesicht abwandte und den Himmel betrachtete, als erwartete derjenige, dass ihn eine irdische oder himmlische Vergeltung traf.
Plötzlich erkannte Thomas die Stimmung. Es war die des Sünders, der hilflos (und ohne Hoffnung auf Erlösung) zu seinem Beichtvater geschlichen kam.
Die Stadt bereitete sich auf ihren Untergang vor.
»Marcel?«, sagte er, doch der Vorsteher war schon auf die Straße getreten und hatte sich nach Westen gewandt. Thomas eilte ihm hinterher.
Sie schritten rasch aus, ließen die engen Gassen an der Stadtmauer hinter sich und betraten die breiteren und geraderen Hauptstraßen der Stadt. Hier drängten sich die Menschen und taten so, als würden sie ihren täglichen Verrichtungen und dem Handel nachgehen, doch überall herrschte die gleiche ängstliche, abwartende Haltung.
»Es ist alles schiefgegangen, nicht wahr?«, fragte Thomas, als sie schließlich in die Grande Rue einbogen und auf die Seine zugingen, während die graue Gestalt von Notre-Dame sich vor ihnen in den tief hängenden Wolken duckte.
»Thomas«, setzte Marcel an und verlangsamte inmitten der Handeltreibenden und Vorbeieilenden auf der Grande Rue seine Schritte, »ich habe mein Bestes gegeben, aber ich fürchte, ich habe versagt.«
Thomas sagte nichts, denn er wusste, dass Marcel sein Gewissen aus eigenem Antrieb erleichtern musste, wenn er tatsächlich Buße tun wollte.
Marcel nickte und lächelte einem Fuhrmann zu, der ihm zuwinkte. »Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und habe sie und ihre Bewohner von ganzem Herzen geliebt.«
Thomas nahm Marcels Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Sein erster Fehler. Er hätte Gott von ganzem Herzen lieben sollen.
»Paris ist eine Stadt des Lichts«, sagte Marcel und ging etwas langsamer, da er einem Dunghaufen ausweichen musste, der vor der Eingangstür eines großen Steinhauses lag, »und ihr Strahlen stammt aus den ehrlichen Herzen ihrer Bürger. Ihnen habe ich mein ganzes Leben gewidmet.«
Wieder nickte Thomas wissend. Gott hättest du dein Leben widmen…
»Ihr seid langweilig, Bruder Thomas«, sagte Marcel sanft. »Ich kenne Eure Gedanken. Ich beichte nicht, sondern bereite Euch nur auf das vor, was vor uns liegt.«
Thomas blieb stehen, wandte sich dem Vorsteher zu und hielt ihn am Ärmel seines schweren Umhangs fest. »Marcel…«
»Nein. Ich werde sprechen, und ich möchte, dass Ihr mich ausreden lasst.« Marcel befreite sich aus Thomas’ Griff. »Ihr versteht noch immer nicht den wesentlichen Unterschied zwischen uns beiden, mein Freund. Ihr widmet Euer Leben Gott und Gottes Werk. Ich hingegen habe mein Leben den Menschen meiner Stadt gewidmet«, Marcels Blick wurde hart und er verzog ein wenig den Mund, als er seine ketzerischen Worte aussprach, »um sie aus Gottes allzu beschützender Hand zu befreien.«
»Das ist Frevel – aber was hätte ich von Euch schon erwarten können?«
Marcel lachte leise und bitter. »Frevel? Nein. Nicht in meinen Augen und den Augen derjenigen, die mich verstehen und für die ich mich einsetze. Aber in Euren Augen… nun, ja, da muss ich tatsächlich wie ein Geschöpf aus der Hölle wirken.« Er lächelte. »Werdet Ihr heute mit mir mitkommen oder fürchtet Ihr Euch vor dem, was ich Euch zeigen könnte?«
»Nichts, das Ihr mir zeigt, kann mich oder meinen Glauben
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