Hueter Der Macht
schlug das Kreuz vor ihnen. »Hinweg mit euch!«
Sie zuckten nicht zurück und schrien auch nicht auf. Doch ihre Gesichter verzogen sich zu einem hämischen Grinsen.
»Wir haben gehört, Ihr sucht nach unserem Hüter«, sagte eine der Gestalten, wohl eine Frau, denn ihre Stimme klang merkwürdig hell. »Wir wünschen Euch viel Erfolg.«
»Thomas«, sagte eine andere Stimme, diesmal eine männliche. »Überlegt Euch gut, was Ihr für böse oder gut haltet.«
»Und überlegt Euch gut«, sagte noch eine andere, »wer Eurer Meinung nach der Jäger und wer der Gejagte ist.«
Sie lachten, ein Geräusch, das so weich und melodisch war wie ihre Stimmen, und dann streckten sie die Hände nach ihm aus…
Thomas sprang aus dem Bett, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und schweißüberströmt, sein Atem rasselte in seiner Kehle.
In dem Gemach war nichts Ungewöhnliches zu erkennen: Die Biermanns lagen im Bett, in tiefen Schlaf versunken.
In dem anderen Bett lagen Marcel, Karle und Marcoaldi und atmeten ruhig und tief.
Thomas blickte auf das Fenster. Es war fest geschlossen. Er sah zur Tür hinüber. Auch sie war geschlossen, und das Feuer brannte immer noch hell im Kamin und warf genügend Licht ins Zimmer, dass er erkennen konnte, dass sich außer ihm und seinen Reisegefährten niemand darin befand.
Er schluckte und versuchte, sich zu beruhigen. Er hob die Hand und ballte sie kurz zur Faust, um das Zittern zu unterdrücken. Dann bekreuzigte er sich, setzte sich, senkte den Kopf und betete eine Weile lang zum heiligen Michael und dem Heiland.
Er schloss dabei nicht die Augen, sondern ließ den Blick durch den Raum schweifen, für den Fall, dass die… die Dämonen sich aus irgendeiner dunklen Nische auf ihn stürzten.
Schließlich, nachdem er beinahe eine Stunde lang gebetet hatte, legte sich Thomas wieder hin. Er blickte an die Decke. In dieser Nacht tat er kein Auge mehr zu.
Obwohl in dem Zimmer außer den rechtmäßigen Bewohnern niemand zu sehen war, hatte Thomas dennoch das Gefühl, dass er beobachtet wurde.
Irgendwo leuchteten noch ein paar Augen.
DEUTSCHLAND
»Zum Streite, heißt des Königs Wort.
Viel Mannen sind, die bass bereitet
Da zu kämpfen, wo man streitet.
Doch muss es ich, sunst keiner sein,
Um mein Leben getorst ich sagen: nein.
Nimm mich doch zu deinem trauten Weibe,
So magst du allhie bleiben.
Wirst sehen noch ein liebes Kind,
Noch eh neun Mond vergangen sind.
Dazu noch hat es Zeit genug,
Nimm einen andern Vater dir mit Fug,
Und liebt er dich so wohl als ich
Und lasst dein Kind nie mehr im Stich.«
Ein Lied (für Margarethe)
Mittelalterliche englische Ballade
Kapitel Eins
An der Vigil des Festes zu Ehren Johannes des Täufers
Im einundfünfzigsten Jahr der Regentschaft Eduard III.
(Mittwoch, 23. Juni 1378)
– JOHANNISNACHT –
Thomas wickelte seinen Umhang fest um sich und zog sich die Kapuze tief in die Stirn, damit sie möglichst viel von dem eisigen Wind abhielt. Es war Hochsommer – Johannisnacht –, so hoch in den Alpen bedeutete das jedoch nur, dass die Straße nicht knietief mit Schnee bedeckt war. Er hob den Kopf und blickte zu den Bergen hinauf.
Sie waren gewaltig und höher als alles, was Thomas jemals gesehen hatte. Große, zerklüftete, schneebedeckte Felsen ragten in den Nachmittagshimmel auf, Dunstwolken sammelten sich um ihre Gipfel.
Er schauderte. In den Volksmärchen hieß es, Berge und tiefe Wälder würden von Dämonen, Kobolden und bösen Elfen bevölkert, und wenn er diese schreckenerregenden Felsen ansah, glaubte Thomas fast daran.
Und morgen würde er sich dort hinauf wagen müssen.
Die Alpenpässe waren sagenumwoben, und die meisten Leute waren mit Geschichten von alten Männern aufgewachsen, die behaupteten, sie bezwungen zu haben. Die große Alpenkette schnitt Italien mit all seinen Handelshäfen und Städten vom Norden Europas ab. Wollte man die Unwägbarkeiten einer Seereise nicht auf sich nehmen, waren die Alpenpässe die einzige Möglichkeit, kostbare Gewürze und Seide aus dem Fernen Osten in den Norden zu schaffen: der Brennerpass in den westlichen Alpen, der von Reisenden nach Mittel- und Osteuropa benutzt wurde, der Sankt-Gotthard- und der Große Sankt-Bernhard-Pass in den östlichen Alpen für Reisende nach Westeuropa.
Auch wer zwischen den italienischen Stadtstaaten und Nordeuropa hin und her reisen wollte, musste die Pässe benutzen, es sei denn – wie Thomas auf seiner
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