Hueter Der Macht
Felsen und ließen brennende Räder aus Heu oder Stroh die Hänge hinunterrollen, um die Sonnenwende zu feiern.
Marcel sah Thomas besorgt an und sagte: »Verurteilt sie nicht zu hart, Thomas. Ein wenig Farbe in ihrem Leben, ein bisschen Spaß wird ihnen sicher nicht schaden.«
»Es kann ihnen durchaus schaden, Marcel, wenn sie an unchristlichen Ritualen teilnehmen, die den Dämonen immer mehr Macht über uns alle verleihen.«
»Nun«, sagte Marcel bedächtig, »die älteren und weiseren unter uns sind hiergeblieben, und ich habe für heute Abend eine kleine Zusammenkunft geplant, um Dankesgebete dafür zu sprechen, dass wir bislang von allem Übel verschont geblieben sind. Ich und die meinen«, er zögerte, »wir begehen die Johannisnacht immer auf diese Weise. Ich wäre hocherfreut und dankbar, wenn Ihr heute Nacht mit uns beten würdet. Nun, Thomas, was sagt Ihr dazu?«
Thomas seufzte und nickte. »Selbstverständlich werde ich das tun. Es tut mir leid, Marcel. Manchmal verlange ich zu viel von den Menschen, und natürlich sind sie nicht vollkommen.«
»Aber es gibt viele gute Menschen auf der Welt, Bruder, die jeden Tag versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen. Ihr müsst Vertrauen zu ihnen haben.«
»Ja. Ihr habt sicher recht.«
In dieser Nacht, warm und behaglich in seinem Bett untergebracht, träumte Thomas, dass die Berge von Dämonen gestürmt wurden. Er zitterte vor Furcht und jauchzte dann auf, als hinter den Bergen die leuchtende Gestalt des Erzengels Michael auftauchte.
Doch gerade als er dachte, der heilige Michael würde die Dämonen vertreiben, bedeckte der Erzengel sein Gesicht mit der Hand, als fürchte er sich, und ergriff dann die Flucht.
Während Thomas noch darum rang, aus seinem Albtraum zu erwachen, gesellten sich die Dämonen wieder zu ihm, umringten ihn und stupsten ihn mit den Fingern an, als sei er ein Stück Fleisch, das vor der Zubereitung geprüft wurde.
Bist du hier, um dich uns anzuschließen, Thomas?, flüsterten sie immer wieder. Willst du einer von uns werden? Glaub ja nicht, du könntest uns besiegen. Jetzt nicht mehr.
Thomas schreckte aus dem Schlaf hoch und blickte sich mit entsetzten Augen in dem stillen, dunklen Gemach um. Er spürte das Böse sehr deutlich, und er fragte sich, ob es daran lag, dass er sich so nahe an den Bergen befand, oder ob die Johannisnacht den Dämonen Zutritt zu seinen Träumen verschafft hatte.
Und warum war der heilige Michael geflohen? Dieser Teil seines Traumes erschreckte Thomas am meisten. Das boshafte Flüstern der Dämonen hatte er erwartet – natürlich würden sie versuchen, ihn abzulenken oder zu verwirren –, aber den heiligen Michael? Der davonlief, als fürchtete er die Dämonen?
Thomas stand auf und verbrachte den Rest der Nacht auf den Knien im Gebet und bat um Mut und Gottes Weisung für das, was vor ihm lag.
Am nächsten Morgen machten sie sich in aller Frühe auf den Weg zum Brennerpass.
Kapitel Zwei
Das Fest des heiligen Johannes des Täufers
Im einundfünfzigsten Jahr der Regentschaft Eduard III.
(Donnerstag, 24. Juni 1378)
– JOHANNISTAG –
Die letzten Meilen bis zum Pass waren von Düsterkeit erfüllt. Es war zwar noch dunkel und so hoch oben auch recht kalt, doch das war nicht der Grund. Thomas war abwesend und still und saß zusammengekauert in seinem Sattel, als fürchtete er, sämtliche Geschöpfe der Hölle würden sich auf ihn stürzen.
Er hatte niemandem von dem Albtraum der letzten Nacht erzählt – obwohl Marcel und der Gastwirt ihm bis zum Aufbruch Gesellschaft geleistet hatten. Seit sie auf den Pass zuritten, hatte er überhaupt nur wenig gesprochen, abgesehen von ein paar einsilbigen Erwiderungen.
Thomas hatte Angst, furchtbare Angst. Wenn der Erzengel selbst vor dem Bösen floh, was konnte er als schwacher Mensch dann dagegen ausrichten?
Er zweifelte nicht daran, dass die Bilder seines Traumes weitgehend der Wirklichkeit entsprachen. Jeder wusste schließlich, dass Träume nur Fenster zwischen der Welt der Menschen und der der Geister waren und die beste Möglichkeit für Dämonen und Kobolde, in die Welt der Menschen einzudringen. Deshalb sollte auch eine Frau niemals allein in einem Gemach schlafen, denn mit der Schwäche Evas behaftet, liefen einsame Frauen Gefahr, den Schmeicheleien von Dämonen und Kobolden zu verfallen.
Während der letzten Jahre hatte Thomas drei schrecklich missgebildete Neugeborene gesehen, geboren von haltlosen und schwachen
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