Hueter Der Macht
einigen Jahren.« Er versuchte zu lächeln, doch es misslang ihm gründlich, und er gab jeden Anschein von Gelassenheit auf. »Ich war mit meinem älteren Bruder Guiseppi unterwegs. Er war mein Mentor. Er hat mir alles über das Bankgeschäft beigebracht. Außerdem war er mein Freund und mein Trost in diesem oft schrecklichen Dasein.«
Noch besorgter – er hatte Marcoaldi noch nie auch nur im Geringsten zaudern sehen – drückte Thomas beruhigend den Arm des Bankiers. »Lebt er denn nicht mehr?«
Marcoaldi antwortete nicht sofort. Ein merkwürdig abwesender Blick war in seine Augen getreten, als starrte er in die Tiefen seiner Seele hinab.
»Er ist auf diesem Pass gestorben, Bruder Thomas.« Marcoaldi holte tief und zittrig Luft. »Er ist auf dem heimtückischen Pfad ausgerutscht und in eine Schlucht hinabgestürzt.« Marcoaldi hob den Kopf und blickte Thomas fest in die Augen. »Er war schrecklich verletzt von dem Sturz, aber nicht tot. Wir… wir standen oben auf der Felswand und hörten, wie er stundenlang um Hilfe rief, bis die Nacht hereinbrach und alles gefror. Er ist allein in dieser Schlucht gestorben, Thomas. Ganz allein. Ich konnte nicht bei ihm sein, ihm helfen oder ihn trösten. Er ist ganz allein gestorben.«
»Er ist gestorben, ohne dass ihm jemand die letzte Beichte abgenommen hat, Giulio? Ohne seine Sünden zu bekennen? Hattet Ihr keinen Geistlichen bei Euch?«
Marcoaldi antwortete nicht, doch statt Schmerz lag auf seinem Gesicht nun Bitterkeit.
Thomas schüttelte den Kopf, entsetzt darüber, dass Marcoaldis Bruder ohne letzte Beichte gestorben war.
»Er ist sicher im Fegefeuer gelandet«, sagte Thomas leise, wie zu sich selbst, dann sagte er lauter: »Aber fürchtet Euch nicht, mein Freund. Eure Gebete und die Eurer Familie werden gewiss dafür sorgen, dass er…«
Marcoaldi entriss Thomas seinen Arm. »Eure frommen Sprüche brauche ich nicht, Priester! Guiseppi hat im Tod nach mir und seiner Frau geschrien. Er ist allein gestorben. Allein! Niemand aus seiner Familie war bei ihm! Es kümmert mich nicht, dass er ohne einen Geistlichen ins Jenseits gegangen ist, nur, dass er ohne seine Angehörigen sterben musste, die ihm hätten Trost spenden können!«
»Aber Ihr solltet Euch Gedanken darüber machen…«
»Ich weiß, dass mein Bruder nicht in Eurem Fegefeuer schmort, Bruder. Guiseppi war ein liebevoller Ehemann, Vater und Bruder. Er war jedem gegenüber freundlich und großzügig. Er ist an einen besseren Ort gegangen als Euer verfluchtes Fegefeuer!«
Und damit drehte sich Marcoaldi um und ging zu den Bergführern hinüber, die sich um die Ochsenkarren kümmerten.
Thomas sah ihm betrübt nach. Auch Marcoaldi war verloren, wenn er sich nicht mehr um sein Seelenheil sorgte und sich weiterhin weigerte, an das Fegefeuer zu glauben. Seine Seele wäre verloren, wenn er sich nicht in Acht nahm.
Sein Bruder Guiseppi ist womöglich auf direktem Wege in die Hölle gekommen, wenn er nicht mehr gebeichtet oder für die Sünde des Wuchers Buße getan hatte, der er sich sein Leben lang hingegeben hat. Ach… diese Bankiers…
Thomas seufzte und ging davon. Wenn jemand Gutes in seinem Leben tat, seine unvermeidbaren Sünden bereute und auf dem Totenbett beichtete, war der Tod eigentlich ein freudiges Ereignis, und die Familie sollte sich freuen, dass der Gestorbene das irdische Jammertal hinter sich gelassen hatte und nun die Ewigkeit mit Gott und seinen Heiligen verbringen konnte.
Ein Tod wie der Guiseppis, allein, ohne Beichte, und – wenn er seinem jüngeren Bruder glich – ohne Reue, war das Schlimmste, was man sich nur vorstellen konnte. Thomas hoffte, Marcoaldi würde seinen Fehler irgendwann einsehen und die ihm verbleibende Zeit dazu nutzen, Buße zu tun und gute Werke zu verrichten, die die Last seiner Sünden verringerten.
Thomas wusste, dass er mit Marcoaldi noch einmal sprechen musste… aber erst, wenn sie die schmerzlichen Erinnerungen und Ängste des Brennerpasses hinter sich gebracht hatten.
Am späten Morgen brachen sie in einer Reihe auf. Die Spitze übernahmen zwei der Bergführer, die jeder einen Karren mit zwei Ochsen lenkten.
Christoffel, Biermann und Giulio Marcoaldi saßen im zweiten Karren. Ihre Gesichter waren entschlossen der Richtung zugewandt, aus der sie gekommen waren, und sie achteten darauf, nicht in den gähnenden Abgrund zu blicken, der sich zur Linken des Pfades auftat. Einer der Führer hatte Thomas angeboten, ebenfalls auf dem Karren mitzufahren,
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