Hüter der Macht
Dergleichen fand sich zwar noch immer in ihren Briefen, aber in den letzten Monaten beschlich ihn immer stärker das verstörende Gefühl, dass diese ihm so kostbaren Zeilen einen anderen Klang besaßen. Schon oft hatte er, so wie jetzt am Fenster, darüber nachgegrübelt, woran es liegen mochte, dass ihre Briefe so verändert erschienen, hatte es aber nicht benennen können. Er hatte an Jacopo geschrieben, ihm seine Sorge mitgeteilt und ihn gebeten, der Sache nachzugehen. Doch in dessen Briefen, die er einem Schreiber auf dem Markt in die Feder diktierte, fand Sandro keine Erklärung. Jacopo hatte ihm immer wieder versichert, dass es nichts Beunruhigendes über Tessa und ihr Leben im Haus ihrer Herrschaft zu berichten gäbe. Dennoch wurde Sandro das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sandro schreckte aus seinen sorgenvollen Gedanken hoch, als hinter ihm ein Flügel der hohen Kassettentür aufgestoßen wurde und Cosimo de’ Medici in sein Arbeitszimmer zurückkehrte. »Michelozzo hat seinen ersten Entwurf fertiggestellt«, rief er und trat an den mächtigen Schreibtisch, den kostbare Intarsien schmückten. Er breitete eine große Papierrolle auf der Arbeitsplatte aus und beschwerte die vier Ecken mit Halbkugeln aus grünem Muranoglas.
Sandro gesellte sich zu Cosimo, um mit ihm den Bauplan zu begutachten, den Michelozzo di Bartolommeo nach Cosimos Angaben gezeichnet hatte. Der Bildhauer Michelozzo gehörte zu jener kleinen Schar von Freunden, die Cosimo freiwillig in die Verbannung gefolgt waren. Er war Schüler von Lorenzo Ghiberti gewesen und hatte mit dem Meister zusammen an der Erschaffung der Bronzetüren für das Baptisterium von San Giovanni gearbeitet. Inzwischen hatte er sich jedoch der Architektur zugewandt und Cosimo hatte ihn dazu auserkoren, die Baupläne für seinen neuen Palazzo zu entwerfen, der nach seiner Rückkehr aus der Verbannung den immensen Reichtum und die machtvolle Stellung des Hauses Medici repräsentieren sollte.
»Ihr scheint ja sehr zuversichtlich zu sein, dass wir schon bald nach Florenz zurückkehren können«, sagte Sandro. Wieder einmal wunderte er sich, mit welch unerschütterlichem Glauben an sich selbst Cosimo seine Zukunft plante. Die noch immer ungewisse politische Lage in Florenz schien ihn nicht weiter zu beunruhigen.
Cosimo lächelte. »Das bin ich auch, Sandro. Ich sage dir, noch vor Ende dieses Jahres sind wir wieder in Florenz. Rinaldo degli Albizzi hat nicht nur einen verhängnisvollen Fehler gemacht. Abgesehen davon, dass er mich hätte töten sollen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte«, er lachte spöttisch auf, »er hat es danach unterlassen, die Namen in den Wahlbeuteln durch die solcher Männer austauschen zu lassen, auf deren Gefolgschaft er sich verlassen kann.«
»Aber er hat angeblich zehn Bürger aus dem Kreis seiner Anhänger ernannt, die überwachen sollen, dass die richtigen Namen aus den Wahlbeuteln gezogen werden«, wandte Sandro ein.
Cosimo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was aber nicht genügt. Mit halben Sachen kommt man nun mal nicht ans Ziel. Rinaldo fehlt einfach der richtige Wille zur Macht. Er will nach außen den Schein wahren, dass er sich trotz aller Ränke an die Verfassung hält. Wer aber keinen Rückhalt im Volk hat, der ist mit diesem halbherzigen Taktieren zum Scheitern verurteilt.«
»Hoffentlich habt Ihr recht«, murmelte Sandro und seufzte, denn in Gedanken war er schon wieder bei Tessa.
Cosimo warf ihm einen wissenden Seitenblick zu. »Dein Seufzer erinnert mich daran, dass ich etwas für dich habe, was dich mehr interessieren dürfte als meine Baupläne«, sagte er und zog einen Brief hervor. »Hier, den hat ein Bote eben gerade unten an der Pforte abgegeben. Ich nehme an, er ist wieder von dieser hübschen Tscherkessensklavin, von der du offenbar nicht lassen kannst.« Inzwischen waren die beiden Männer so vertraut miteinander, dass Sandro Cosimo den leisen Spott nicht übel nehmen konnte.
Wie auch – bei einer solchen Nachricht! Er strahlte übers ganze Gesicht, als er den Brief entgegennahm. Er ging zurück ans Fenster, öffnete den Brief und begann zu lesen. Doch schon nach wenigen Zeilen begriff er, dass der Brief nicht von Tessa, sondern von Jacopo kam. Allerdings war es die Schrift von Carmela, wie er sofort erkannte.
»Oh mein Gott! Nein!«, rief er entsetzt aus, während er weiterlas.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte Cosimo.
Sandro ließ den Brief sinken und wandte sich
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