Hüter der Macht
wäre es wohl kein allzu großes Problem, dich hier durch Bestechung herauszuholen. Derlei geschieht doch alle Tage. Aber man beschuldigt dich, die Mörderin von Fiametta Vasetti zu sein, deren Mann gerade als Prior gewählt wurde. Der Kerkermeister wird sich hüten, sich bestechen und dich laufen zu lassen.«
Tessa ließ den Kopf sinken. Carmelas nüchterne Einschätzung zerstörte ihre Hoffnung auf einen Schlag.
»Du darfst den Kopf nicht hängen lassen!«, beschwor die Köchin sie. »Jacopo wird bestimmt eine Lösung finden. Halte nur ein bisschen durch, uns wird schon etwas einfallen.« Sie griff unter ihren Rock. »Und schau mal, was ich noch für dich mitgebracht habe. Das sind die Briefe, die Sandro in der Zwischenzeit geschrieben hat! Ich werde sie dir gleich vorlesen. Aber viel wichtiger ist, dass wir ihm gleich eine Botschaft schicken, damit er weiß, dass du …«
»Nein, Carmela!«, fiel Tessa ihr erschrocken ins Wort. »Sandro darf nichts davon erfahren!«
»Aber du kannst ihn doch nicht …«
»Doch, ich kann!« Alle Schwäche wich von Tessa, als sie sich energisch aufrichtete. »Du darfst ihm nichts von meiner Einkerkerung schreiben! Hast du denn vergessen, dass ihm der Tod sicher ist, wenn er den Ort seiner Verbannung verlässt und hier in Florenz erkannt wird? Soll er denn auch noch sterben?« Sie sah Carmela beschwörend an. »Und Sandro wird sich sofort auf den Weg machen, sobald er von meiner Einkerkerung erfährt! Nein, das darf nicht geschehen!« Sie griff nach der Hand ihrer Vertrauten. »Du musst mir bei Gott und allen Heiligen schwören, dass Sandro nichts davon erfährt. Schwöre es, Carmela! Bitte! Und Jacopo musst du dieses Versprechen auch abnehmen!«
Carmela zögerte, doch dann gab sie nach, als sie die Angst in Tessas Augen sah.
»Also gut, ich schwöre es«, sagte sie seufzend. »Und ich werde auch Jacopo schwören lassen.«
Damit griff sie nach den Briefen, die sie in den Kerker geschmuggelt hatte. Tessas Augen wurden immer größer und bald traten wieder die Tränen in ihre Augen, als sie Sandros sehnsuchtsvolle Zeilen hörte. Wie nah und gleichzeitig unendlich fern war ihr Geliebter ihr doch! Sie meinte, seine Stimme zu hören, seine Hände zu spüren, während Carmela leise vorlas, was er ihr schrieb.
Viel zu schnell war die Köchin am Ende angelangt, und ehe Tessa sie bitten konnte, noch einmal mit dem ersten Brief zu beginnen, kam der Kerkermeister zurück. »Deine Zeit ist um! Nun komm schon!«, drängte er. »Gleich ist Schichtwechsel, dann musst du verschwunden sein.«
»Ich komme so bald wie möglich wieder«, raunte Carmela. »Sei tapfer, mein Kind! Ich werde für dich und dein Kleines beten.«
Gleich darauf schlug die Tür und Tessa war wieder allein. Doch Carmela hatte es geschafft, einen Funken Hoffnung in der kalten Dunkelheit zu entzünden.
Dieser Funken, so schwach er auch in ihr glomm, reichte, um ihren Lebenswillen auch in den dunkelsten Stunden der Verzweiflung zu nähren. Denn Woche um Woche verging, ohne dass Carmela zurückkehrte. Vicenzo Moravi schien nicht gewillt zu sein, sie ein weiteres Mal zu Tessa zu lassen.
So erschien es ihr fast wie ein Wunder, als der Kerkermeister ihre mütterliche Freundin eines Tages doch wieder zu ihr führte. Es war mittlerweile Anfang April geworden, wie sie von Carmela erfuhr.
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie lang dir die Zeit geworden sein muss«, sagte die Köchin mitfühlend, als sie die Freundin stürmisch umarmt hatte. Tessa war inzwischen sehr geschwächt von ihrem Kerkeraufenthalt. Aber wenigstens hatten sich die Wächter erweichen lassen, ihr regelmäßig etwas zu essen zu bringen.
»Jacopo und ich haben es für klüger gehalten, die Bestechlichkeit von Vicenzo Moravi nicht über Gebühr zu strapazieren und erst einmal abzuwarten, ob Lionetto Vasetti noch einmal zu einem der Prioren gewählt wird«, erklärte Carmela, warum sie Tessa erst jetzt besuchte. »Zum Glück für uns ist seine Wiederwahl gescheitert. Offenbar hat er sich während seiner Amtszeit nicht sehr viele Freunde gemacht.«
Tessa rieb sich die Augen. Das ungewohnt helle Licht der Fackel schmerzte sie. »Hast du wieder Briefe von Sandro mitgebracht?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Carmela nickte. »Wie hätte ich die auch vergessen können. Ich werde sie dir gleich vorlesen.« Sie zwinkerte Tessa zu. »Es wird dich auch interessieren, dass die Florentiner immer unzufriedener sind mit der Art und Weise, wie die Partei der Albizzi die
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