Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
Sonne schien durch eines der runden Fenster direkt in ihr Gesicht.
„Emily?“, rief ihre Großtante. „Bist du wach?“
„Sogar ein Siebenschläfer mitten im Winterschlaf wäre jetzt wach“, brummte Emily und rief laut: „Ja, bin ich!“
„Wir haben verschlafen. Beeil dich, ich habe Frühstück gemacht!“, rief Sophia. Dann schepperte es wieder, und Emily hörte Amethyst fauchen. Was hatte sie wohl schon wieder angestellt?
Emily schlug die Bettdecke zurück und trat an eines der Fenster. Jetzt erkannte sie, dass sich Sophias Haus etwa auf halber Höhe des Stadthügels befand. Von hier aus gesehen wirkte das Gewirr der schiefen Dächer, Brücken und engen Gässchen noch mehr wie ein riesiges, undurchdringliches Labyrinth. Außerhalb der hohen Stadtmauer erstreckte sich das weite Moor, über dem Nebel waberte. Noch weiter weg erkannte Emily die undeutlichen Umrisse riesiger Luftschiffe, die über der Landschaft schwebten. Auch am Luftschiffhafen von Arcanastra legte gerade eines der Gefährte ab. In der Nähe gab es einen hohen Turm mit gläserner Kuppel. Bestimmt konnte man von dort aus gut die Sterne beobachten, dachte Emily.
Als sie ihr Zimmer durchquerte und aus dem runden Fenster schaute, erblickte sie die Hügelspitze in der Mitte Arcanastras. Auch aus dieser Entfernung sah der Bibliotheksturm riesig aus. Die Metallkuppel über dem Wald der Silberbuchen leuchtete im Sonnenlicht.
„Bist du soweit?“, rief Sophia. Emily zuckte zusammen und ging rasch ins Bad. Danach schlüpfte sie in ihre Sachen und lief nach unten in die Küche.
Der Raum sah ziemlich chaotisch aus. Zwar gab es nur auf einigen Wandregalen Bücher, dafür hingen Töpfe und Pfannen an den Wänden, Geschirr stapelte sich in jeder freien Ecke, und es gab Dutzende von kleinen Dosen und Behältern voll Tee und Gewürze, alle mit unleserlicher Schrift beschrieben.
Sophia war gerade dabei, einen Haufen umgeworfener Töpfe aufeinander zu stapeln.
„Die zwei haben hier ein bisschen gespielt“, erklärte sie. „Ein Glück, dass sie sich so gut verstehen.“
Zweifelnd schaute Emily sich um. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre eingebildete Katze sich mit einer Ente anfreundete. Für sie sah es eher so aus, als hätte Amy sich einen Spaß daraus gemacht, die Ente quer durch die Küche zu jagen. Samantha C. saß quakend auf dem Schrank, wo die Katze sie nicht erreichen konnte, die Brille schief auf dem Schnabel. Amy hingegen fraß mit Unschuldsmiene irgendwelche Algen aus Samanthas Napf. Emily war überzeugt davon, dass die Katze die nicht mal mochte. Sie fraß sie bestimmt nur, um die Ente zu ärgern.
„Amy“, sagte sie streng. „Das ist Samanthas Napf. Deiner steht dort drüben.“
Amethyst zuckte nicht einmal mit einem Schnauzhaar.
„Also wirklich“, murmelte Emily, hob die Katze hoch und trug sie ans andere Ende der Küche, wo der Napf mit den Fleischbällchen stand. „Hier kannst du fressen!“
Amy drehte sich beleidigt um und stolzierte aus der Küche. Seufzend setzte Emily sich an den Tisch.
„Fang ruhig an“, sagte Sophia, während sie Toast, Orangensaft und Kakao auf den Tisch stellte. „Und beeil dich. In zehn Minuten müssen wir los, sonst komme ich zu spät.“
Emily nahm sich eine Scheibe Toast und strich Butter und Marmelade darauf. Ein ganz normales Frühstück, dachte sie erleichtert. So seltsam wie die Sandwiches am Abend vorher konnte das auf keinen Fall schmecken.
Zwei Sekunden später hatte sie ihre Meinung allerdings geändert.
„Magst du die Spinatmarmelade?“, fragte Sophia und setzte sich zu Emily an den Tisch.
„Köstlich“, würgte Emily. Die nächste Scheibe Toast aß sie mit nichts darauf. Doch sogar nach drei Gläsern Orangensaft hatte sie den Spinatgeschmack noch im Mund.
Als die Uhr im Wohnzimmer schlug, sprang Sophia auf und rief:
„Nun aber los!“
Erst jetzt fiel Emily auf, wie ausgefallen ihre Großtante gekleidet war. Sie trug einen Rock und eine dazu passende Bluse, beides hellgrün und mit großen violetten Blumen bedruckt. Emily kicherte. Sie drückte Amy, die eingeschnappt im Korridor saß, einen Abschiedskuss auf den Kopf und sagte:
„Sei brav, und lass die Ente in Ruhe, hörst du?“
Dann trat sie neben ihrer Großtante aus dem Haus.
„So, da werde ich ihn leichter wiederfinden als gestern“, meinte Sophia und steckte den Schlüssel in die Manteltasche der Vogelscheuche. Danach rückte sie ihren ebenfalls geblümten Hut zurecht und ließ Emily auf die Straße
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