Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
meinte Emma zu ihm. „Obwohl… Hannah kennst du ja schon. Stimmt es eigentlich, dass ihr zusammen seid? Ich meine, so richtig ?“
Sie schaute ihn mit blitzenden Augen an.
„Nein, tut es nicht“, knurrte Finn unwillig.
„Hannah arbeitet im Bestiarium“, erklärte Emma. „Und mein Bruder Leo ist bei den Sternguckern. Ach, da drüben steht er ja.“
Emily schaute in die Richtung, in die Emma zeigte. Durch ein Fenster sah sie in einen weiteren Korridor. Dort stand ein Junge, der etwas älter war als sie selbst. Er unterhielt sich gerade angeregt mit einigen sehr betagten Hütern und sah dabei äußerst ernsthaft aus.
„Was müssen Sterngucker tun?“, wollte Emily wissen.
Emma machte der Bibliothekarin Platz, die wieder durch den Korridor wankte. Diesmal war der Bücherstapel auf ihren Armen noch höher. Dann antwortete sie:
„Ach, Leo sitzt halbe Nächte lang in der Sternwarte von Arcanastra. Vor allem muss er nach Meteoriten suchen, ihre Flugbahn berechnen und bestimmen, wo sie einschlagen. Das Metall der Meteoritenkerne wird in Arcanastra gebraucht, um Mechaniken zu konstruieren. Leo kommt sich unglaublich wichtig vor deswegen. Findet, das sei eine der bedeutendsten Aufgaben, die man als Hüter haben kann.“
Das konnte Emily sich sehr gut vorstellen, wenn sie Leo so anschaute.
„Blödsinn“, unterbrach Finn Emma. „ Ich konstruiere Mechaniken, und das ist ja wohl wichtiger, als nur das Metall dafür zu liefern.“
„Zufälligerweise mache ich das auch“, erinnerte ihn Emma. „Und ich bin ganz deiner Meinung.“
„Hmpf“, grummelte Finn leise. Diese Tatsache schien ihn nicht halb so glücklich zu machen wie Emma.
Auf einmal trat er zu einem der Fenster des Korridors und spähte hinaus.
„Dort ist das Mädchen aus der Straßenbahn“, sagte er.
Emily stand auf und schaute ebenfalls aus dem Fenster. In einem nahen Raum saß das Mädchen dort mit einer älteren Hüterin. Es schien ihr etwas zu erklären und zeigte immer wieder auf eine Stelle in einem Buch. Finn drehte sich um.
„Ich frage sie, wie es ihr geht“, sagte er.
„Ich muss auch los“, verkündete Emma. „Ich glaube, Leo trifft sich gleich heimlich mit einem Mädchen. Wäre doch zu schade, wenn ich nicht herausfinden würde, wer sie ist.“
Sie lächelte Emily noch einmal zu und folgte Finn, obwohl dieser genervt die Augen verdrehte. Im nächsten Augenblick waren die beiden hinter der Biegung des Korridors verschwunden.
Sie hätte sie fragen können, was die Bücher hier so außergewöhnlich machte, überlegte Emily. Doch dann war sie froh, es nicht getan zu haben. Sie wollte vor den beiden nicht zu ahnungslos dastehen.
In den folgenden Tagen blieb Emily von morgens bis abends in der Bibliothek. Den Weg durch die Stadt fand sie dank Finns Kompass und der Bahn mühelos. Finn kam ab und zu in der Bibliothek vorbei, meist auf der Flucht vor Emma, die dann kurze Zeit später ebenfalls auftauchte. Sie redete wirklich viel. Bald wusste Emily genau Bescheid über Hannah und Leo und auch über die Hälfte von Emmas übrigen Verwandten, die alle in einer Stadt südlich von Arcanastra lebten. Zudem aß Emma unglaublich viel. Emily sah sie fast immer mit einem gigantischen Sandwich in der Hand herumlaufen.
Jeden Abend holte Finn Emily in der Bibliothek ab und begleitete sie nach Hause. Sophia hatte sich nämlich von ihrer Großnichte versprechen lassen, dass sie nach Anbruch der Dämmerung nicht allein unterwegs war.
„Warum nicht?“, hatte Emily gefragt. „Ist es in Arcanastra gefährlich?“
„Normalerweise nicht“, hatte Sophia gemurmelt. „Aber im Moment…“ Mehr hatte sie sich nicht entlocken lassen. Emily war jedoch überzeugt, dass ihre Sorgen etwas mit dem Irrlicht zu tun hatte, welches das Mädchen ins Moor gelockt hatte. Sie hatte Finn mehrmals danach gefragt, aber auch er war nicht bereit gewesen, ihr mehr zu verraten.
Einige Tage später beschloss Emily, das Bestiarium zu besuchen und sich den Schieferstachler anzuschauen. Mit Hilfe von Finns Kompass fand sie die richtige Straßenbahn bald. Emily genoss die Fahrt durch die Stadt. Die anderen Hüter waren die Aussicht offensichtlich gewöhnt… jedenfalls starrte keiner von ihnen so gebannt aus dem Fenster wie Emily.
Vor dem Bestiarium blieb sie unschlüssig stehen. Das Tor war offen, und Sophia hatte ihr gesagt, dass sie einfach hineingehen durfte. Trotzdem wartete Emily, bis ein Hüter sie entdeckte. Er schaufelte gerade Stroh aus einem der
Weitere Kostenlose Bücher