Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
keinem Buch, das einen oder sogar mehrere Sterne auf dem Rücken hat. Sie können gefährlich sein. Oder um es mit Adèle Foucaults Worten zu sagen: Lass die Finger von ihnen – du könntest sonst einen davon verlieren.“ Sophia gluckste. „Und jetzt entschuldige mich – es gibt viel zu tun.“
Während ihre Großtante in der Bibliothek ihrer Arbeit nachging, streifte Emily erst einmal umher und erkundete immer neue Winkel des riesigen Turmes. Sie fuhr mit Paternoster-Aufzügen, stieg auf Wendeltreppen in schwindelerregende Höhen, entdeckte Abkürzungen und versteckte Korridore. Bald hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie sich überhaupt befand, doch darüber machte sie sich keine Sorgen. Immer wieder begegnete sie anderen Hütern. Sie würde einfach jemanden fragen, wenn sie den Ausgang suchen wollte.
Dutzende Bücher zog sie aus den Regalen, um darin zu blättern. Sie konnte nicht genug bekommen von den wunderschönen ledernen Einbänden, den farbenfrohen Malereien, dem Knistern der Seiten, dem Geruch nach Staub und Tinte, den verschnörkelten Schriften, von denen sie die meisten gar nicht lesen oder nur mit Mühe entziffern konnte. Immer wieder dachte sie an Sophias rätselhafte Andeutungen vom Abend zuvor. Was machte diese Bücher wohl wirklich außergewöhnlich? Sie fand es nicht heraus.
Doch etwas Seltsames bemerkte sie. Auf der Innenseite des Buchdeckels befand sich bei den meisten Werken eine Namensliste. Die ersten Namen waren oft so vergilbt, dass sie kaum mehr lesbar waren. Wenn Emily die Namen direkt anschaute, passierte nichts… doch wenn sie den Blick etwas zur Seite gleiten ließ und die Namen nur aus dem Augenwinkel betrachtete, halb unscharf… dann schienen manche von ihnen sich leicht zu bewegen.
„Komisch“, murmelte Emily vor sich hin.
Schließlich wählte sie einige Bücher über Mechaniken aus. Damit setzte sie sich auf eine steinerne Bank in einem Korridor, der sehr belebt war. Einige der Hüter, die vorüberkamen, nickten Emily freundlich zu.
Sie verstand kaum etwas von dem, was sie las. Mechaniken waren offensichtlich sehr kompliziert. Trotzdem blätterte sie interessiert durch die Seiten und betrachtete all die Abbildungen. Bei vielen Mechaniken konnte sie sich nicht einmal vorstellen, wozu sie gut waren.
„Hallo, Bücherwurm“, grinste Finn, als er auf einmal vor ihr auftauchte. „Und, war deine Großtante nett zu dir?“
„Ja, war sie“, nickte Emily. „Und gegen Amy hat sie auch nichts.“
Emily klappte das Buch zu. Dann aber erinnerte sie sich an die Namenslisten auf den Buchdeckeln, und sie öffnete es wieder.
„Diese Namen in den Büchern.“ Sie zeigte sie Finn. „Was bedeuten die?“
„Ach, das sind alles Buchbinder“, sagte Finn. „Jeder, der ein Buch mal restauriert hat, schreibt seinen Namen hinein. Manchmal muss man eine eingerissene Seite ersetzen oder einige Buchstaben neu schreiben, weil man sie fast nicht mehr lesen kann. Na ja, die meisten dieser Buchbinder leben natürlich nicht mehr. Du siehst ja, wie vergilbt die Namen schon sind.“ Er zuckte die Schultern. „Übrigens, Sophia hat gesagt, du gehörst auch zu ihnen.“
„Und du konstruierst Mechaniken, oder?“, erwiderte Emily. „Sophia hat mir deinen Kompass gegeben.“
„Genau“, sagte Finn stolz. „Ich arbeite in Julies Werkstatt.“
„Ich habe noch eine Mechanik… aber sie ist etwas kaputt.“ Emily streifte sich die Kette mit der Mechanik daran über den Kopf und streckte sie Finn hin.
„Kannst du die reparieren?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Finn betrachtete die Mechanik stirnrunzelnd.
„Ich kann’s ja mal versuchen“, meinte er und steckte sie ein. „Letztes Jahr war es noch schön ruhig in der Werkstatt. Aber jetzt gibt es dort eine Neue, und sie… oh nein.“
„Erzählst du gerade von mir?“, fragte ein Mädchen. Hinter einer Bibliothekarin, die unter einem riesigen Bücherstapel beinahe zusammenbrach, kam es durch den Korridor und blieb vor der steinernen Bank stehen. Zufrieden biss es in ein riesiges Sandwich.
„Ich dachte, ich hätte dich abgehängt“, murrte Finn. Dann erklärte er: „Das ist Emma, die Neue in Julies Werkstatt. Sie redet die ganze Zeit.“
„Er übertreibt.“ Emma zwinkerte Emily unbekümmert zu. „Eigentlich rede ich sogar ziemlich selten.“
Die beiden Mädchen lächelten sich an.
„Hmpf“, machte Finn.
„Du würdest dich bestimmt gut mit meinen älteren Geschwistern verstehen, die finden mich nämlich auch unausstehlich“,
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