Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
heiseren Stimme zu übertönen. Sie war Emilys Biologielehrerin.
„Und hier seht ihr einen ornithorhynchus anatinus “, sagte sie gerade voller Begeisterung.
Emily reckte den Hals, doch zwischen ihr und der Direktorin stand die ganze restliche Klasse. Sie fand also nicht heraus, welches Tier sich hinter dem unaussprechlichen und komplizierten Namen verbarg. Nicht allzu schlimm, fand sie. Eigentlich interessierte sie sich im Moment sowieso mehr für das baldige Wochenende.
„Nun gut, dazu später mehr, wenden wir uns jetzt dem nächsten Exemplar zu, ebenfalls ein wunderbares Stück...“
Die Direktorin war in ihrem Element. Erst am Tag zuvor war im Korridor eine Vitrine aufgestellt worden, mit lauter ausgestopften Tieren darin. Seitdem war die Direktorin kaum mehr von dort wegzukriegen, und der Unterricht all ihrer Klassen fand momentan im Korridor statt. Im eiskalten Korridor. Fröstelnd rieb Emily sich die Hände und wünschte sich, sie könnte endlich ins warme Klassenzimmer zurückkehren. Und überhaupt fand sie es nicht sehr nett, die armen Tiere einfach auszustopfen.
Auf einmal stieß jemand sie unsanft in die Seite.
„Hey, Neue, alles klar? Glücklich und zufrieden?“
Emily drehte den Kopf. Vor ihr standen die Zwillinge Tom und Jerry und grinsten hinterhältig. Natürlich waren das nicht ihre wirklichen Namen, doch hier in der Schule nannte sie jeder so.
„Sicher“, sagte sie.
Das stimmte überhaupt nicht, und die Zwillinge wussten das sehr genau. Emily war erst seit einigen Wochen in dieser Klasse. Seit den Sommerferien, um genau zu sein. Schon der erste Schultag war eine Katastrophe gewesen. Kaum jemand hatte überhaupt den Kopf gehoben, als die Direktorin sie vorgestellt hatte, und Emily hatte sich rasch auf einen freien Platz in der hintersten Reihe geschoben. Die ganze Stunde lang hatte sie ungewohnt aufmerksam zugehört, aber höchstens die Hälfte davon verstanden, was die Direktorin erzählte. In den Pausen war sie allein im Klassenzimmer gesessen und hatte deprimiert auf einem Sandwich herum gekaut. Niemand schien sich dafür zu interessieren, dass sie an dieser Schule war. Man konnte nicht behaupten, dass es unterdessen besser geworden wäre. Trotzdem bestanden ihre Eltern darauf, dass sie an der Charlotte Kaiser blieb.
„Dort sind sie spezialisiert auf Schüler, die… nun ja… etwas mehr Unterstützung brauchen“, hatten sie gesagt. Emily musste zugeben, dass ihre Noten an ihrer alten Schule wirklich immer schlechter geworden waren. Trotzdem hasste sie es hier. Wenn sie nur nicht ausgerechnet in der Klasse der Zwillinge gelandet wäre!
Emily seufzte und schaute angestrengt zum Fenster hinaus. Vielleicht würden Tom und Jerry sie dann in Ruhe lassen, hoffte sie. Noch immer fiel strömender Regen, und noch immer erzählte die Direktorin mit heiserer Stimme etwas über ein ausgestopftes Tier.
„Hey, Neue...“, flüsterte Tom. Dabei drehte er einen Tennisball in den Händen herum.
„Ich habe einen Namen“, fauchte Emily zurück.
Tom grinste und warf seinem Bruder einen Blick zu. „Hast du gehört? Die Neue wird frech.“
„Hab’s gehört.“ Jerry trat drohend einen Schritt näher. „Pass mal auf, Neue . Du solltest besser ein bisschen höflich sein. Wir könnten sonst nämlich...“
Was sie könnten, erfuhr Emily jedoch nicht. Glücklicherweise klatschte die Direktorin in diesem Moment in die Hände und rief:
„Gut, jetzt kennt ihr alle Tiere in dieser Vitrine. Zurück ins Klassenzimmer!“
Tom und Jerry starrten Emily finster an, dann drehten sie sich um und schlurften hinter den anderen her Richtung Klassenzimmer. Emily seufzte wieder. Obwohl es regnete, schaute sie sehnsüchtig aus dem Fenster. Wie viel lieber wäre sie jetzt draußen gewesen, trotz Nässe, anstatt in dieser Schule. Erfreulicherweise würde die Stunde bald zu Ende sein, dann hatte Emily nur noch Mathe vor sich. Gerade war sie vom Fensterbrett gerutscht, da traf etwas sie mit voller Wucht am Kopf. Emily taumelte. Einige Augenblicke lang tanzten Funken vor ihren Augen. Toms und Jerrys hämisches Gelächter hallte durch den Korridor.
Als Emily wieder deutlicher sehen konnte, bemerkte sie den Tennisball auf dem Boden. Einer der Zwillinge hatte damit auf sie gezielt. Emily rieb sich den schmerzenden Kopf. Später konnte sie nicht mehr sagen, warum genau sie es getan hatte, aber all der Ärger über die neue Schule brach plötzlich aus ihr heraus. Sie bückte sich, hob den kleinen Ball auf, holte aus
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