Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
und schleuderte ihn mit aller Kraft Richtung Vitrine.
KLIRRRR!
Mit ohrenbetäubendem Splittern und Krachen zerbarsten die Glaswände der Vitrine. Scherben rieselten auf den Steinboden und in die Felle der ausgestopften Tiere. Tom und Jerry starrten Emily mit offenen Mündern an, Emily starrte die Überreste der Vitrine an, und die Direktorin, die in der Tür des Klassenzimmers erschienen war, starrte den Tennisball an, der langsam den Korridor hinunter bis zu Emilys Füssen rollte...
Unbehaglich drehte Emily den Brief in den Händen herum. Nach der Sache mit der Vitrine hatte sie der Direktorin einen endlosen Nachmittag lang dabei helfen müssen, mit einer Pinzette die Glasscherben aus den Fellen der ausgestopften Tiere zu zupfen. Ihren Eltern hatte sie davon nichts erzählt, sondern behauptet, sie ginge wegen eines Erdkundeprojekts in die Schule. Aber jetzt war dieser Brief gekommen, und bestimmt stand ganz genau darin, was Emily getan hatte. Vielleicht – und bei diesem Gedanken kam ihr der Wind noch eisiger vor – würde sie deswegen sogar von der Schule fliegen.
Langsam ging Emily zum Haus zurück. Und wenn sie den Brief einfach versteckte, anstatt ihren Eltern zu geben? Sie konnte ihn in winzige Schnipsel zerreißen und im Klo hinunterspülen. Oder ihn verbrennen. Emily kniff die Augen zusammen, als eine besonders starke Windbö ihr die Haare ins Gesicht wirbelte. Aber wahrscheinlich war das eine schlechte Idee. Früher oder später würden ihre Eltern ohnehin erfahren, was sie getan hatte.
Emily schloss die Haustür hinter sich. Eine Weile blieb sie im Flur stehen und lauschte. Die Stimmen ihrer Eltern drangen noch immer aus der Küche. Dann gab Emily sich einen Ruck und schob die Tür auf. Ihre Eltern waren dabei, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Post für euch“, murmelte Emily, legte Päckchen und Brief auf den Tisch und verließ die Küche schnell wieder. Sie beschloss, einen Ausflug auf den Dachboden zu unternehmen, bevor die Welt über ihr zusammenstürzte.
Natürlich war Amy auch dabei. Sie zwängte sich zwischen alten Truhen und fleckigen Spiegeln hindurch, beschnupperte all den Gerümpel, der in dunklen Ecken lag, und hopste auf Emilys kaputtem Trampolin herum.
Emily selbst setzte sich auf ein abgewetztes Sofa unter dem staubigen Dachfenster. Sie kam oft her. Hier konnte sie ihren Gedanken nachhängen, ohne dass sie von jemandem gestört wurde.
Sie zog die Schublade der alten Kommode auf, die neben dem Sofa stand. Darin lag das Familienalbum der Rubinsterns. Emily hatte es schon vor Jahren entdeckt. Sie mochte es, durch die Seiten zu blättern und die gemalten Porträts all ihrer Vorfahren zu betrachten. Irgendwann gab es natürlich Fotografien anstelle der Gemälde. Diese waren teilweise so stark vergilbt, dass man die Person darauf kaum mehr erkennen konnte.
Und wie immer, wenn Emily das Album in den Händen hielt, dachte sie an das Familiengeheimnis der Rubinsterns.
Das Familiengeheimnis war eine, nun ja, geheimnisvolle Sache. Es wurde von den Rubinsterns sehr gut gehütet, und das bereits seit langer Zeit. Die Eltern erzählten es einzig ihren Kindern weiter. Es gab jedoch auch Rubinsterns, die nicht daran glaubten, dass an der ganzen Geschichte auch nur irgendetwas stimmte.
„Verrückt seid ihr“, murmelten sie, wenn ein anderer Rubinstern davon anfing.
Emily wusste noch genau, wie ihre Eltern ihr davon erzählt hatten. Es war an dem Tag gewesen, als Emily das Album auf dem Dachboden entdeckt hatte. Jedes einzelne Wort der Geschichte konnte sie wiederholen.
Andri war der erste von uns, der eines Tages einfach verschwand. Er war damals noch sehr jung, kaum dreizehn Jahre alt. Seine Verwandten suchten ausgiebig nach ihm, doch vergeblich. Irgendwann fanden sie sich damit ab, dass sie ihn wohl nie wieder sehen würden. Vielleicht hatte er ja eines dieser Schiffe bestiegen, die über das Meer zu dem neu entdeckten Kontinent fuhren. Doch dann, Jahre später, kehrte Andri zurück. Mittlerweile war er ein stattlicher junger Mann geworden. Er erzählte unglaubliche Geschichten von einem verborgenen Ort voller magischer Dinge.
„Dort gibt es eine Stadt“, flüsterte er, während seine Familie gebannt lauschte. „Nur wenigen Menschen ist es möglich, sie zu betreten. Sie ist voller Geheimnisse, und ihre Gründung liegt zu lange zurück, als dass heute noch eine genaue Überlieferung davon existieren würde. Arcanastra ist uralt. An jeden Stein, jeden Baum
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