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Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)

Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)

Titel: Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Richner
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unergründlich.
    Das war ungewöhnlich, dachte Emily. Normalerweise öffneten ihre Eltern die Post, sobald sie gekommen war. Vielleicht hatten sie den Brief übersehen? Aber Emily hatte ihn mitten auf den Küchentisch gelegt...
    Es wurde elf Uhr, zwölf Uhr, und noch immer ging Emily unruhig in ihrem Zimmer umher und lauschte. Im Haus war es totenstill. Sie hatte Durst, aber sie wollte nicht in die Küche hinunter gehen, um sich Saft zu holen. Vielleicht saßen ihre Eltern jetzt gerade dort und lasen den Brief. Irgendwann dachte sie, dass es eine gute Idee wäre, ihr Zimmer etwas aufzuräumen. Das würde sie wenigstens ablenken, und es könnte ihre Eltern etwas besänftigen.
    Eine weitere Stunde später war das Zimmer kaum wiederzuerkennen. Schulsachen und Comic-Hefte lagen ordentlich im Schrank, die schmutzige Wäsche war verschwunden, und der Abfallkorb quoll über vor gräulichen Brötchen, Apfelresten und Papierschnipseln. Emily hatte sogar die Socke von der Lampe geangelt. Amethyst lag eingerollt auf dem frisch bezogenen Bett und schlief seelenruhig. Erschöpft schaute Emily sich um. Wenn sie jetzt noch den Abfallkorb leerte und Staub saugte, war an ihrem Zimmer kaum mehr etwas auszusetzen. Sie war gerade in den Flur getreten, als ihre Mutter von unten rief:
    „Emily, Essen ist fertig!“
    Emilys Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Dann aber beruhigte sie sich. Ihre Mutter hatte nicht wütend geklungen. Zudem zog der Duft nach Hackbraten durchs Haus und ließ Emilys Magen schmerzhaft knurren. Mittlerweile war sie auch fast verdurstet. Also entschloss sie sich, nach unten zu gehen.
    An der Küchentür blieb sie stehen und schaute sich verwirrt um. Auf dem Tisch lagen kunstvoll gefaltete Servietten, eine Kerze brannte, und sogar Girlanden waren um die Blumentöpfe und das Radio geschlungen. Irgendetwas Entscheidendes musste sie verpasst haben, überlegte Emily angestrengt. Heute war doch nicht etwa der Geburtstag ihrer Mutter oder ihres Vaters? Nein, die waren beide im Frühling, und auch ihr eigener war nicht heute, das wusste sie ziemlich sicher... Amys ebenfalls nicht… vielleicht war ihr Vater zum Direktor seiner Schule befördert worden? Oder ihre Mutter hatte einen längst verschollenen Etruskerschatz gefunden?
    „Was ist denn los?“, fragte sie und suchte mit den Augen unauffällig nach dem Brief.
    „Wieso?“, fragte ihr Vater unschuldig zurück, während er Schokoladenherzen rund um Emilys Teller streute.
    „Na ja, deswegen !“ Sie zeigte auf die Girlanden und den geschmückten Tisch. Levin Rubinstern räusperte sich und behauptete:
    „Das ist doch nichts Außergewöhnliches.“
    Sprachlos starrte Emily ihn an. Dann schaute sie zu ihrer Mutter, aber die wich ihrem Blick aus, guckte rasch in den Ofen und rief übertrieben:
    „Oh, der Hackbraten brennt an, ich sollte mal eben...“ Der Rest war nur undeutliches Gemurmel.
    Unbehaglich setzte Emily sich auf ihren Platz. Etwas sehr Merkwürdiges ging hier vor sich. Sie wickelte eines der Schokoladenherzen aus dem roten Knisterpapier und schob es sich in den Mund. Dann ein zweites Herz, ein drittes, und noch eines... normalerweise hätte das bei ihren Eltern einstimmigen Protest ausgelöst.
    „Doch keine Schokolade vor dem Essen, Emily“, hätten sie gerufen. Heute aber sagte ihr Vater:
    „Lass es dir schmecken, Lieblingstochter.“
    Und ihre Mutter meinte:
    „Im Schrank liegen noch welche, falls du mehr willst.“
    Das war der endgültige Beweis dafür, dass irgendetwas überhaupt nicht so war, wie es sein sollte. Langsam begann Emily sich wirklich Sorgen zu machen. Sogar der Appetit auf Schokoladenherzen war ihr vergangen.
    Es wurde das seltsamste Mittagessen, das sie jemals erlebt hatte. Ihre Mutter häufte riesige Stücke des Hackbratens auf ihren Teller, bis Emily stöhnend protestierte und „Ich kann nicht mehr!“ rief. Ihr Vater musterte sie aufmerksam, wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte, und schob ihr immer wieder Schokoladenherzen zu.
    „Iss, Emily, ich weiß ja nicht, ob dort...“, begann er einmal, dann biss er sich auf die Lippe und schwieg. Olivia Rubinstern seufzte darauf abgrundtief und stocherte in ihrem Essen, von dem sie keinen Bissen angerührt hatte. Nur Amethyst verhielt sich normal. Mit einem Stück Girlande, das ihr aus dem Maul hing, stolzierte sie durch die Küche, strich um die Stuhlbeine und maunzte, bis Emily ihr heimlich etwas Hackbraten vor die Nase hielt und nur noch zufriedenes Schmatzen unter dem

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