Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
aufzutreten. Crispin hatte dieses ständige Herumziehen schon lange satt. Viel lieber hätte er in einem richtigen Haus in einer richtigen Stadt gewohnt.
Ambra, Ignazio und ihr Sohn Demetrio warteten in der Küche mit dem Frühstück auf ihn. Crispin schob sich auf die kleine Bank hinter dem Tisch. Er fröstelte. Im Wagen war es kalt, und er hatte das Gefühl, bereits den ersten Schnee in der Luft zu riechen.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte Ambra lächelnd und schob ihm ein kleines Paket zu. Es war mit glitzerndem Papier umwickelt.
„Von uns allen“, erklärte sie.
Crispin riss neugierig das Papier weg und öffnete die Schachtel, die darunter zum Vorschein gekommen war. Darin lag ein wunderschön geschliffener Stein mit einem Muster aus feinen Kreisen in verschiedenen Grautönen. Der Stein hing an einem Lederband.
„Danke“, sagte Crispin und streifte sich das Band über den Kopf. Demetrio grinste ihm zu. Und glücklicherweise wusste Crispin nicht, dass damit die schönen Momente seines Geburtstags bereits aufgebraucht waren.
Wenig später brachen sie auf. Die beiden Pferde zogen den Wagen, und die Familie ging zu Fuß neben ihm her. Wie Ambra gesagt hatte, lag noch ein weiter Weg vor ihnen bis zur nächsten Stadt, und Crispin hatte mehr als genügend Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen.
Seit über zwölf Jahren lebte er schon bei Ambra, Ignazio und Demetrio. Immer wieder ließ Crispin sich erzählen, wie es gekommen war, dass diese Gaukler ihn aufgenommen hatten.
„Wir waren für eine Aufführung in die Ringstadt gekommen“, begann Ambra immer. „Drei Tage lang blieben wir dort, doch die Bewohner der Stadt waren nicht sehr interessiert an uns. Lieber besuchten sie ihr seltsames Kuriositätenkabinett. Deshalb entschieden wir, wieder abzureisen und in die nächste Stadt zu ziehen. Wir mussten dringend Geld verdienen.“
„Aber dann habt ihr beschlossen, zuerst noch ins Wirtshaus in der Eulenstraße zu gehen“, sagte Crispin dann jedes Mal, und Ambra lächelte und nickte.
„Genau so war es. Wir saßen also dort, aßen und tranken, und es wurde immer später. Irgendwann rollte sich Demetrio sogar auf der Bank zusammen und schlief ein. Es war weit nach Mitternacht, als wir endlich aufstanden und zu unserem Wagen zurück gehen wollten.“
„Und dann…“, sagte Crispin, denn an dieser Stelle der Geschichte tauchte er auf, wie eine plötzliche Sternschnuppe am Himmel.
„Und dann – wir waren bereits an der Tür – rief der Wirt quer durch den Raum, wir hätten da noch ein Kind vergessen“, erzählte Ambra weiter. „Er hielt einen Weidekorb in die Höhe, in dem ein wirklich niedliches Kleinkind lag und mich direkt anblickte. Das warst du. Ich wusste gleich, dass du irgendwie zu uns gehörst... ich hätte nicht durch diese Tür gehen und dich zurücklassen können. Also habe ich genickt und den Korb genommen. Ignazio hat mich angeschaut, als ob ich den Verstand verloren hätte.“
Ambra lächelte jedes Mal bei der Erinnerung.
„Und seitdem bist du mit uns umhergezogen“, schloss sie ihre Erzählung.
Obwohl Crispin manchmal angestrengt versuchte, sich zu erinnern, wusste er nichts von dieser denkwürdigen Nacht oder seinem Leben davor. Aber auch wenn Ambra ihm nicht davon erzählt hätte, Crispin hätte trotzdem gewusst, dass er nicht zu ihrer Familie gehörte. Nicht richtig jedenfalls, nicht so wie Demetrio. Er konnte gar nicht Ambras und Ignazios Sohn sein, denn er besaß überhaupt kein Talent zum Gaukler.
Anfangs hatte er es trotzdem versucht. Zusammen mit Demetrio hatte er geübt, kleine Schmetterlinge aus Stoff durch die Luft schweben zu lassen oder aus Flammen Figuren zu formen, doch es war einfach hoffnungslos gewesen. Demetrio jedoch hatte die Kunststücke nach kurzer Zeit beherrscht. Also traten er, Ambra und Ignazio auf, während Crispin mit einem Hut durch die Reihen der Zuschauer ging und das Geld einsammelte, das sie spendeten. Er fand es schrecklich. Die anderen bekamen Applaus, wurden bewundert und bestaunt, und er war nur der Junge mit dem Hut. Beim Gedanken daran kickte er wütend einen Stein von der Straße.
Dann aber wurde er abgelenkt. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, und zwischen den Hügeln tauchten die Häuser der Stadt auf. Bald hatten sie das Eingangstor erreicht. Sie führten die Pferde durch die breiten, noch fast menschenleeren Gassen. Die Laternen wurden gerade gelöscht, und erst vereinzelt fuhr eine Bahn an ihnen vorüber. Crispin
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