Hüterin der Nacht: Roman (German Edition)
musterte ihn kurz, dann erwiderte ich: »Du solltest Liander anrufen.«
»Verdammt, Riley, halt mir keinen Vortrag. Nicht jetzt. Ich habe Lust, etwas Dampf abzulassen, und genau das werde ich jetzt tun.«
Uns war beiden klar, dass mein Bruder bei Liander so viel Dampf ablassen durfte, wie er wollte. Ich fragte mich, wieso er sich so dagegen wehrte, sich irgendwie zu Liander zu bekennen. Doch das wütende Funkeln in seinen grauen Augen sagte mir, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für dieses Thema war.
Er musste eigentlich wissen, dass er riskierte, den Mann zu verlieren, der vermutlich sein Seelenverwandter war. Er musste sein Seelenverwandter sein, denn niemand anders würde sich so von Rhoan behandeln lassen.
»Sei vorsichtig«, sagte ich bloß. Ich beugte mich vor und gab ihm einen Kuss, dann stieg ich aus.
Als das Taxi davonfuhr, winkte er. Ich lächelte und ging die Stufen zu unserem Haus hinauf.
Jack war nicht glücklich, dass wir immer noch hier wohnten. Nach Gautiers anfänglicher Drohung hatte er darauf bestanden, dass wir in ein sichereres Gebäude umzogen. Das hatte Gautier allerdings nicht abhalten können. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, in die damalige Wohnung zu gelangen. Vampire konnten die Türschwelle zu einer Wohnung nicht übertreten, ohne dass man sie ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Er allerdings hatte uns eine blutige Rose und eine schlichte Nachricht hinterlassen:
Das Schönste an einem Mord ist die Vorfreude.
Die Jagd hat noch nicht einmal begonnen.
Danach waren wir wieder in unsere Wohnung zurückgezogen. Nicht dass wir etwa weniger vorsichtig waren, aber Gautiers Nachricht war eindeutig gewesen. Er konnte uns immer und überall kriegen. Es gab also keinen Grund, sich zu verstecken.
Ich stieß die alte hölzerne Haustür mit der Glasscheibe auf und stieg die Treppen hinauf. Ursprünglich war das alte Backsteingebäude ein Lagerhaus gewesen, diente aber mindestens seit fünfzig Jahren als Mietshaus. Das Gebäude und die Wohnungen waren zwar genauso heruntergekommen wie das gesamte Sunshine-Viertel, aber es lag verkehrsgünstig und nah zum Stadtzentrum. Außerdem waren die Wohnungen größer als alle, die heutzutage gebaut wurden. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie sehr billig waren.
Die alte Frau, der das Gebäude gehörte, hasste Nichtmenschen jeglicher Art. Es war zwar gesetzlich verboten, Nichtmenschen zu diskriminieren, aber deshalb hätte sie uns trotzdem nicht als Mieter nehmen müssen. Wenn sie wollten, fanden Menschen immer einen Weg, das Gesetz zu umgehen, doch wer Werwölfe im Haus hatte, hatte keine Probleme mit Ratten. Und in einer rattenverseuchten Gegend war das ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Keine Ahnung, wieso diese kleinen Mistkerle mit den Knopfaugen uns so sehr hassten. Bestimmt nicht, weil wir sie gern verspeisten. Sie schmeckten genauso widerlich, wie sie aussahen.
Rhoan und ich wohnten im sechsten Stock und somit ganz oben. Einen Fahrstuhl gab es nicht, nur eine Treppe. Die stieg ich jetzt hinauf. Abgesehen von dem Training, zu dem man uns in der Abteilung zwang, war das meine einzige sportliche Betätigung. Ich stieß die Tür vom Treppenhaus auf und trabte über den Flur auf unsere Wohnung zu. Ich muss zugeben, dass ich in dem Moment nicht an meine Sicherheit dachte. Ich wollte nur in die Wohnung, heiß duschen und Gallonen von Haselnusskaffee trinken. Das Ganze würde ich mit einer Tafel von meiner Lieblingsschokolade Marke Schwarzwald krönen.
Zu den vielen guten Seiten des Werwolfdaseins gehörte unser effizienter Stoffwechsel, der dafür sorgte, dass wir essen konnten, was wir wollten, ohne zuzunehmen.
Ich öffnete die Tür, warf meinen Mantel fort, legte meine Schlüssel auf den Telefontisch und begann mich auf dem Weg zum Badezimmer auszuziehen.
Ein leises Lachen kroch durch die Stille.
Mir blieb das Herz stehen, und ein paar schreckliche Sekunden lang dachte ich, ich hätte einen Fehler gemacht, der mich das Leben kosten würde. Dann erkannte ich die Stimme, und mein Herz machte einen seltsamen kleinen Hüpfer. Als ich mich umdrehte, musste ich unwillkürlich lächeln.
Quinn O’Conor, uralter Vampir, Milliardär, Geschäftsmann und einer meiner beiden festen Liebhaber, lehnte lässig mit verschränkten Armen an einer der Fensterscheiben, die die Rückwand unseres Wohnzimmers bildeten.
Er machte sich verdammt gut als Fensterdekoration.
Heute Nacht trug er ein dunkelblaues Hemd, das seine breiten
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