Hüterin der Nacht: Roman (German Edition)
brauchte man Geschick, Praxis und eine rasiermesserscharfe Klinge. Wieso sollte Gautier so viel Aufwand betreiben, wenn er die wirkungsvollste Tötungsmaschine war, die die Abteilung je hervorgebracht hatte?
Aber abgesehen von Dunleavy fanden sich nur zwei andere Gerüche in dem Raum. Einer davon gehörte Gautier. Der andere war blumiger, weiblicher und stammte zweifellos von der Freundin, die die alte Frau erwähnt hatte.
Wenn es Gautiers Kunstwerk war, wo zum Teufel hatte er gelernt, so geschickt einen Körper zu enthäuten? Dunleavys Rücken sah zwar stellenweise furchtbar aus, aber die Arbeit war trotzdem besser, als es ein Laie zustande gebracht hätte. Was Gautier mit Sicherheit war. Er war zwar seit Monaten nicht mehr an die Abteilung gebunden, aber reichte die Zeit aus, um ohne Lehrer die Technik des Häutens zu lernen?
Selbst, wenn er geübt hatte, wo waren dann die Leichen?
Dann fielen mir die Leichenteile ein, die ich in der Fabrik gefunden hatte. Hätte ich mir die Zeit genommen, die Teile gründlich durchzusehen, hätte ich vielleicht Hautstücke gefunden, ganze und zerfetzte.
Möglicherweise waren die Einzelteile nicht die Folge von dem Blutrausch eines Babyvampirs, sondern von Gautiers Versuch, neue schreckliche Fähigkeiten zu erlernen.
Ich rieb zitternd meine Arme. Womöglich war es noch beunruhigender, dass Gautier das Stadthaus ganz offensichtlich nach Sonnenaufgang verlassen hatte. Die alte Frau hatte gesagt, dass der Lärm vor Stunden aufgehört hatte. Das musste dennoch deutlich nach Sonnenaufgang gewesen sein. Die Konsistenz des Blutes auf den Laken und auf Dunleavys Leiche passte zu dieser Vermutung.
Gautier war ein junger Vampir. Er dürfte nicht in der Lage sein, sich nach Sonnenaufgang draußen aufzuhalten, und dennoch sah es ganz danach aus. Ich hatte das Gefühl, wir sollten lieber ganz schnell herausfinden, wie er das machte, ansonsten steckten wir ziemlich in der Klemme.
Ich holte tief Luft, stieß sie langsam wieder aus und ließ den Blick über Dunleavys Leiche gleiten. Nichts deutete auf einen Kampf hin, weder seine Hände noch seine Füße waren gefesselt, und in dem Zimmer war nichts umgefallen oder umgekippt.
Gautier musste Dunleavy mittels Bewusstseinskontrolle hierhergebracht und offensichtlich auf diese Art auch seine Freundin außer Gefecht gesetzt haben, denn die alte Frau in dem vorderen Stadthaus hatte keine Schreie gehört. Aber wer hatte die Hütte verwüstet? Wieso hatte er das nicht ebenfalls verhindert? Gautier war sicher stark genug, um zwei Menschen zu kontrollieren. Es sei denn, er wollte es nicht.
Bei dem Gedanken liefen mir Schauer über die Haut. Gautier tat nichts ohne Grund. Wie oft hatte ich das schon gedacht?
Ich runzelte nachdenklich die Stirn, wandte den Blick von Dunleavys Leiche ab und sah mich um. In dem begehbaren Kleiderschrank hing sowohl Frauen- als auch Männerkleidung. Entweder wohnte Dunleavys Freundin hier oder sie verbrachte verdammt viel Zeit in diesem Haus. Ansonsten stand wenig in dem Zimmer. Dunleavy gab nicht viel Geld für Möbel aus, die Einrichtung in diesem Raum bestand aus billiger Standardware. Entweder war er als Dieb nicht sehr erfolgreich oder er verwendete seine Einnahmen für andere Sachen. Vielleicht verriet das Wohnzimmer mehr darüber.
Als ich mich umdrehte, um den Raum zu verlassen, kribbelte mein Nacken, und der Geruch von Moschus stieg mir in die Nase.
»Riley Jenson?«, sagte eine unbekannte Stimme. »Cole Reece, Säuberungsteam der Abteilung.«
Ich lächelte, weil er so vorsichtig klang. Offensichtlich hatte Cole mit ein paar schnell erregbaren Kollegen oder vielleicht sollte ich sagen, reaktionsschnellen Wächtern zu tun gehabt. »Ich bin hier.«
Schritte hallten durch den Flur – sie waren zu dritt, alles Männer. Das verriet ihr schwerer Gang ebenso wie ihr intensiver Geruch. Ein großer Mann unbestimmten Alters mit einem faltigen Gesicht tauchte im Türrahmen auf, seine grauen Haare glänzten silberig in dem harten Licht, das durch die Fenster hereinfiel. Sein würziger Moschusgeruch umfing mich und wirkte in der unangenehmen Atmosphäre dieses Hauses so erfrischend wie eine Meeresbrise auf mich. Meine Hormone scharrten aufgeregt mit den Füßen, wozu es allerdings nicht viel brauchte, wenn die Mondhitze einsetzte.
Sein Geruch verriet mir, dass er ein Wolf war, allerdings kein Werwolf. Jede Rasse hatte ihren ganz speziellen Geruch, eine Art Basisgeruch, in den sich individuelle Duftnoten mischten.
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