Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
hätte. Sie war voller Kummer. Und sie war verloren. Er war kein Held. Er war nicht der Mann, der von sich aus vortrat und die Unschuldigen rettete. Er war selbst verloren. Schon vor langer Zeit waren Schatten eingedrungen und hatten ihm sein Leben geraubt. Aber er hätte alles, was noch von ihm übrig war, dafür gegeben, der Mann zu sein, der eine Möglichkeit fand, Judith Henderson zu retten. Er wollte unbedingt dieser Mann sein, und das war alles andere als einleuchtend. Sie war eine wildfremde Frau, aber das bisschen Menschlichkeit, das noch in ihm war, reckte sich dieser Frau entgegen.
»Mr. Vincent?«
Ihre Stimme war so verführerisch wie alles andere an ihr. Samtweich strich sie über seine Haut. Sie hatte sich bereits in sein Innerstes eingeschlichen.
»Miss Henderson?« Sein Akzent war perfekt. Er war schon fest in seiner Rolle als Thomas Vincent verankert, ein amerikanischer Geschäftsmann, der in der Kunstszene Ansehen genoss und Referenzen aufweisen konnte, die jeden beeindruckt hätten. Wie an jeder guten Tarnung hatte er auch an dieser eine Weile gearbeitet. Die Kunst machte ihm überhaupt keine Schwierigkeiten, denn er hatte emsig studiert, und da er die Fähigkeit besaß, sich alles, was er las, zu merken, fiel es ihm leicht, auf seine ausgedehnten Studien zurückzugreifen und sie für die angenommene Rolle zu nutzen.
Judith kam einen weiteren Schritt auf ihn zu und ihr Blick glitt über seinen Körper. Er wusste, dass er sogar in seinem eleganten Anzug, der wie angegossen saß, keinen allzu erhebenden Anblick bot. Er hatte den Körperbau eines Bodybuilders und das ließ sich einfach nicht verbergen. Seine konische Taille und seine schmalen Hüften betonten erst recht seinen massiven Brustkorb, die kräftigen Arme und die breiten Schultern. Seine Augen waren stechend und von einem tiefen Blaugrün, fast türkis, seine natürliche Augenfarbe. Normalerweise trug er getönte Kontaktlinsen, aber es war notwendig gewesen, dieser Frau ein wenig von sich selbst zu zeigen. Von dem, was noch von ihm übrig war, und das war nicht gerade viel.
»Ja, ich bin Judith Henderson. Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu lange warten lassen. Ich bin im Studio aufgehalten worden und hatte keine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann. Entschuldigen Sie, bitte.«
Dieser Frau hätte ein Mann alles verziehen, insbesondere dann, wenn sie ihn mit so offenkundiger Aufrichtigkeit ansah. In ihren Augen konnte ein Mann ertrinken. Er verlangsamte seine Atmung und unternahm etwas gegen seinen schnellen Herzschlag. Dann lächelte er sie an – ein echtes Lächeln. Sie riss den Kopf hoch und blinzelte mehrfach rasch hintereinander, ein Anzeichen dafür, dass sein verschmitztes Lächeln nicht ohne Wirkung auf sie blieb.
Er stellte fest, dass er sie nicht manipulieren wollte, nicht so, wie er es bei anderen Zielpersonen tat, doch jede Bewegung war geschmeidig und einstudiert, denn diese Dinge waren ihm seit seiner Kindheit eingebläut worden. Er war in dieser Schule nicht der Attraktivste gewesen; er war zu schroff und zu kantig, um als gutaussehend bezeichnet zu werden, aber er besaß unbestreitbaren Charme und einen gestählten, muskulösen Körper, der einer Frau zwangsläufig auffiel. Manchmal wirkten die Narben in seinem Gesicht und auf seinem Körper abschreckend, aber in der Mehrzahl der Fälle fanden Frauen sie faszinierend.
»Kein Problem. Sea Haven ist sehr reizvoll. Ich habe die Zeit dafür genutzt, durch den Ort zu schlendern. Sie hatten ja gesagt, Sie könnten sich eventuell ein paar Minuten verspäten, und da habe ich die Gelegenheit genutzt, um mir ein Bild von der Lage der Galerie zu machen. Sea Haven scheint tatsächlich alles zu halten, was in der Anzeige angepriesen wird.«
»Falls Sie auf der Suche nach einem familiengerechten Ort sind«, sagte Judith, »dann ist es der ideale Ort.«
Er lächelte sie wieder an. »Ich habe keine Familie. Ich habe einfach nur beschlossen, den ewigen Konkurrenzkampf hinter mir zu lassen. In meinem Alter gewinnt ein friedliches Leben eine gewisse Anziehungskraft.«
»Sie sind aus New York?« Sie ging auf die Tür der Galerie zu und holte einen Schlüsselbund hervor.
Ihre Bewegungen waren sparsam und anmutig und ließen alles Überflüssige weg. Er stellte sich dicht genug neben sie, um ihren Duft einzuatmen. Ein exotischer Zitrusduft. Sehr weiblich. Stefan war im Lauf der Jahre so oft in Gesellschaft wunderschöner Frauen gewesen, dass er das Mitzählen aufgegeben hatte, doch
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