Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Schwierigkeiten hatte wie er. Dabei hätte er in ihr nichts anderes als eine Zielperson sehen sollen.
Seine Aufgabe bestand darin herauszufinden, wie er am besten ihr Vertrauen gewinnen konnte. Soweit er sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass er nicht viel für seinen Auftrag übrighatte und von Anfang an keinen Wert darauf gelegt hatte. Er hatte sich eingeredet, es läge daran, dass er eine Falle für seinen Bruder witterte – dass er dafür benutzt wurde, Lev aus seinem Schlupfloch herauszulocken, damit er endgültig ausgeschaltet werden konnte. Jetzt wusste er, dass hinter seiner ablehnenden Haltung mehr gesteckt hatte – es war ihm auch um diese spezielle Frau gegangen.
»Ich lebe liebend gern hier«, gestand Judith, als sie sich mit den Büchern in den Händen langsam aufrichtete.
Stefan wusste, dass er ihr den Eindruck vermittelte, ihm sei etwas Tragisches zugestoßen, das in ihm den Wunsch nach Frieden geweckt und ihn zu dem Entschluss geführt hatte, dem Großstadtleben den Rücken zu kehren. Sie sah ihn mit einer kleinen Spur von Mitgefühl an. Sie wollte sich nicht dafür interessieren, aber es beschäftigte sie dennoch. Diese Beobachtung erfüllte ihn mit immenser Genugtuung. Thomas Vincent musste die Jagd auf Judith zurückhaltend angehen, oder sie würde schleunigst davonlaufen.
»Ich glaube, mir ginge es auch so.« Die Feststellung, dass er die Wahrheit sagte, schockierte ihn ein wenig. Er hatte nie in Betracht gezogen, sich irgendwo niederzulassen, es sich nie auch nur vorgestellt, und doch war die Überzeugung in seiner Stimme echt. »Kommen viele Fremde in die Stadt?«
»Unter den Einwohnern kennt jeder jeden. Wir stehen einander ziemlich nah – wir sind, was unsere Existenzgrundlage angeht, aufeinander angewiesen. Aber es ist auch ein Touristenort. Viele Leute machen hier Ferien. Es ist schön hier und all die Künstler, die sich hier niedergelassen haben, locken ebenfalls Besucher an.«
Das war nicht zwangsläufig eine positive Angelegenheit. Petr Ivanov konnte sich unauffällig unter die vielen Urlauber und Touristen mischen und es Stefan erschweren, ihn aufzuspüren. Ivanov war gut darin, sich unauffällig unter die Leute zu mischen, und er war der reinste Verwandlungskünstler.
Stefan ließ den Blickkontakt mit Judith wieder abreißen. Er fuhr sich mit einem Finger unter den Kragen, als sei er ihm plötzlich etwas zu eng. »Ich muss Ihnen ein Geständnis machen.« Er zögerte einen Moment und lächelte dann zaghaft – ein Wolf im Schafspelz. »Ich habe im Haus eines Freundes eines Ihrer frühen Gemälde gesehen. Er ist ein Sammler mit Wohnsitz in New York. Es hieß Mondaufgang und ich war tief beeindruckt, als ich es gesehen habe. Ich habe versucht, es ihm abzukaufen, aber er war nicht dazu zu bewegen. Ich habe ihm eine viertel Million Dollar dafür angeboten und er wollte es mir trotzdem nicht verkaufen.«
Das klang mit Sicherheit ehrlich, denn er sagte die absolute Wahrheit. Als Teil seiner Tarnung als Amerikaner hatte er sich im Lauf der Jahre prominente Freunde zugelegt. Steven Cabot war der Besitzer einer renommierten internationalen Anwaltskanzlei. Er war aber auch Kunstsammler – sowohl Gemälde als auch Skulpturen. Es war reiner Zufall, dass Cabot extrem aufgeregt reagiert hatte, als Thomas Vincent sein Interesse an der Künstlerin Judith Henderson erwähnt hatte. Cabot hatte von einem Gemälde geschwärmt, das er vor einigen Jahren erworben hatte, und er hatte Thomas zu sich mitgenommen, damit er es sich ansehen konnte.
Stefans Reaktion darauf, eine starke körperliche Reaktion, war dieselbe gewesen wie beim ersten Mal, als er sich an seinem Computer Gemälde von ihr in ihrer Akte angesehen hatte. Es hatte ihn vollständig in seinen Bann gezogen. Er sah weit mehr darin als den mondhellen Himmel, der sein Licht auf ein Feld mit weißen Blumen ergoss. Das Werk war atemberaubend. Wunderbar. Genial. Das Gemälde war voller Leidenschaft, sinnlich und unschuldig – genau wie die Frau, die vor ihm stand. Und es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Steve nicht ebenfalls dagestanden und restlos bezaubert zu dem Gemälde aufgeblickt hätte.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Stefan Prakenskij die Erfahrung finsterer Eifersucht gemacht. Dieses Gefühl erschütterte ihn und senkte sich wie eine dunkle Wolke über ihn herab, denn schließlich war er jemand, der sich weigerte, Gefühle anzuerkennen. Einen entsetzlichen Moment lang hatte Steve Cabots Leben auf dem Spiel
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