Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Ihre winzigen Flügel schwirrten laut, die spitzen Schnäbel näherten sich seiner Haut und erst im letzten Moment drehten die Vögel ab. Ein lange vergessener Beschützerinstinkt ließ ihn seinen Arm um Judiths Kopf schlingen und ihr Gesicht bedecken, um sie vor dem Angriff zu schützen.
Judith stieß einen schockierten kleinen Schrei aus und legte gemeinsam mit ihm Tempo zu, obwohl sie nicht viel sehen konnte; sie hatte ihre Hände abwehrend erhoben. Er benutzte seinen Körper dafür, ihren Körper zu schützen, und seine Arme setzte er dazu ein, ihr Gesicht abzuschirmen, während seine Wut zu schwelen begann.
Lass den Quatsch, Lev. Wenn sie auch nur einen Kratzer abkriegt, bekommst du es mit mir zu tun, und das kannst du nicht im Ernst wollen. Es war keine leere Drohung.
Stefan war hergekommen, um seinem Bruder das Leben zu retten und ihn vor einem Mörder zu warnen, der ihm nachstieg, aber jetzt wollte er ihm die selbstgefällige Fresse polieren. Lev bildete sich ein, er hätte hier einen guten Auftritt am Laufen, indem er diese Frauen – Judiths Schwestern – hinters Licht führte, aber so würde es nicht weitergehen. Und wenn seine neunmalklugen Spielchen dazu führten, dass auch nur einer der Vögel sie angriff, hatte Lev eine Tracht Prügel zu erwarten, wie er sie noch nie in seinem Leben bekommen hatte.
Du könntest es versuchen, aber ich bezweifle, dass du mehr als den ersten Schlag landen kannst.
Lev hatte offensichtlich vergessen, wer hier der ältere Bruder war und das Sagen hatte. Judith stieß einen zweiten kleinen gepeinigten Laut aus. Er konnte die Furcht fühlen, die ihm entgegenschlug. Kalte schwarze Wut stieg in ihm auf und glomm dicht unter der Oberfläche. Sie stand in einem direkten Verhältnis zu Judiths Furcht, immer ein schlechtes Zeichen.
Du jagst ihr Angst ein, du Mistkerl.
Die Vögel zogen sich abrupt zurück.
Warum zum Teufel hast du das nicht gleich gesagt, statt dich wie eine eingebildete Kreuzotter aufzublasen?
Du hast recht, aber warum um alles in der Welt sollte ich dir ein Gehirn zutrauen? Stefan ließ Verachtung in seine Stimme einfließen. Es widerte ihn an, dass sein Bruder diese Frauen ausnutzte. Dabei verwandte er große Sorgfalt darauf, seinen Abscheu vor sich selbst aus dem Weg zu räumen, weil er ja mit dem Gedanken gespielt hatte, dasselbe zu tun.
Die Verbindung zwischen ihnen ließ mit zunehmender Entfernung nach. Stefan versuchte, eine Richtung zu ertasten. Bevor er hier fortging, würde er herausfinden, welches Haus Rikki gehörte, Levs angeblicher Ehefrau, damit er seinem Bruder einen kleinen Besuch abstatten und ihn im hohen Bogen rauschmeißen konnte.
»Sind sie fort?«, fragte Judith mit bebender Stimme.
Stefans Beschützerinstinkte versetzten ihm einen festen Tritt, als er das kleine Stocken in ihrer Stimme hörte. Er zog seinen Arm zurück, damit sie wieder etwas sehen konnte. Sie näherten sich den letzten Trompetenbaumgewächsen. »Ich glaube, wir sind in Sicherheit«, beteuerte er ihr.
»So habe ich sie noch nie erlebt. Kolibris sind aggressiv, das weiß ich, aber sie haben uns regelrecht angegriffen.«
»Vielleicht sind wir einem ihrer Nester zu nah gekommen«, schlug Stefan vor.
»Das ist vermutlich eine ebenso gute Erklärung wie jede andere.« Eine Spur von Argwohn schwang in ihrer Stimme mit und sie sah sich mit diesem kleinen Stirnrunzeln, das er entzückend fand, noch einmal sorgfältig um, ehe sie ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zuwandte. »Erst sticht dich die Biene, und jetzt auch noch der Angriff von den Vögeln. Es tut mir so leid, Thomas. Es hätte ein vergnüglicher Nachmittag für dich werden sollen.«
Sein Arm legte sich enger um sie. »Ich bin ein Draufgänger, Judith.«
Sie blickte lächelnd zu ihm auf. »Du bist zumindest kein Spielverderber, das muss ich dir lassen.« Sie warf einen Blick auf seinen Nacken und in ihren Augen stand Sorge. »Dein Nacken schwillt noch immer an.«
Er konnte es fühlen. Auf ihn war schon recht oft geschossen worden, man war mit Messern auf ihn losgegangen, hatte ihn gefoltert und andere unerfreuliche Dinge mit ihm getan. Es wäre die reinste Ironie, wenn ihm ausgerechnet eine Biene, die sein Bruder auf ihn angesetzt hatte, den Rest gäbe. Ivanov würde bestimmt seine helle Freude daran haben. Was Stefan gut gefiel, war die Sorge um ihn, die er aus ihrer Stimme heraushörte. Sie machte sich echte Sorgen um ihn, und da es eine brandneue, fremdartige Erfahrung für ihn war, dass sich jemand
Weitere Kostenlose Bücher