Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
zog, um ihn aus seinem Fleisch zu entfernen. »Ich sehe die Aura von Menschen. Und seine war schlammig und kompliziert und gewalttätig. Sämtliche Anzeichen waren da, aber ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte die Dinge glauben, die er zu mir gesagt hat, statt an etwas zu glauben, was niemand sonst sehen konnte.«
Sie tupfte Salbe auf den Stich. Er wartete, bis sie die Tube hinlegte, nahm erst dann behutsam ihr Handgelenk und zog sie herum, bis sie vor ihm stand, zwischen seinen Schenkeln eingekeilt. Seine Hände legten sich auf ihre Taille.
»Wie alt warst du, Judith?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich war einundzwanzig und sehr naiv. Eine junge Einundzwanzigjährige, was die Erfahrung mit Männern angeht. Ich war so mit meinem Studium beschäftigt, dass ich nie wirklich mit Männern zu tun hatte, was nicht heißen soll, dass ich mich darauf hinausreden will. Irgendwo tief in meinem Inneren wusste ich es besser. Ich habe mich einfach nur geweigert, die Warnsignale zu beachten.« Sie war nicht bereit, den Blick von ihm abzuwenden, und ihre Hände legten sich auf seine Schultern. »Eines Tages habe ich ihn besucht, ohne vorher anzurufen. Ich bin durch die Hintertür ins Haus geschlichen, um ihn zu überraschen. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer war angelehnt und ich habe Stimmen gehört. Schreie, die abrupt abrissen. Es roch nach Blut.« Sie presste sich eine Hand auf den Mund.
Er konnte das Grauen in ihren Augen sehen. »Er hat jemanden gefoltert.«
»Nicht Jean-Claude. Er stand einfach nur da und hat zugesehen. Seinen Männern. Er war immer von sehr beängstigenden Männern umgeben. Er hat mir gesagt, das läge an seinem Geld und an seiner Arbeit. Es gäbe viele Menschen, die ihm den Tod wünschten.« Sie feuchtete sich die Lippen an. »Ich bin zur Tür hinausgeschlüpft, ehe mich jemand gesehen hat. Ich habe mich so gefürchtet, dass ich meinen Bruder Paul angerufen habe. Er war älter als ich und hatte mich großgezogen, nachdem unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Natürlich kam er, um mir zu helfen. Er hat alles stehen und liegen lassen und ist sofort mit Geld und einem Fluchtplan nach Frankreich geflogen.«
8.
S tefan wartete, denn es war ihm enorm wichtig, dass Judith genug Vertrauen zu ihm hatte, um sich ihm anzuvertrauen. Ihr Schmerz war allumfassend und ging ihm zu Herzen. Er konnte fühlen, wie ihr Schmerz ihn niederdrückte und so schwer auf ihm lastete, dass seine Brust wehtat. Die Wände um ihn herum pulsierten vor Schmerz – sie atmeten ihn ein und aus –, doch sie war entweder an dieses Phänomen gewöhnt oder sie nahm es nicht wahr. Er erwartete fast, dass das Haus weinen würde, und vielleicht tat es das ja. Judith hatte sich in diesem Moment verloren, das schreckliche Geschehen von damals war für sie so real, als passierte all das noch einmal. Wahrscheinlich durchlebte sie Nacht für Nacht alptraumhafte Wiederholungen.
Judiths Stimme zitterte, doch er bezweifelte, dass sie es wusste. Sie sah ihm direkt in die Augen, aber sie war nicht mehr bei ihm, sondern weit weg, in einem anderen Land auf der anderen Seite des Meeres, und durchlebte das Grauen von Neuem.
»In Griechenland haben sie uns eingeholt. Paul hat mich an einen Ort vorausgeschickt, aber als er nicht nachgekommen ist, bin ich umgekehrt. Sie haben ihn gefoltert, um meinen Aufenthaltsort herauszufinden. Ich …« Sie verstummte wieder und holte tief Luft.
Stefans Hände schlossen sich fester um ihre, um ihr Mut zu machen. »Erzähl es mir.«
»Ich … ich bin vollständig durchgedreht. Meine Gefühle waren so intensiv. Angst. Wut. Kummer. Schuldbewusstsein. Ich habe mich selbst und sie alle verabscheut . Ich wollte ihren Tod. Ich wollte Jean-Claudes Tod. Ich habe jede Spur von Selbstbeherrschung verloren und das darf jemand wie ich nicht. Es ist zu gefährlich.«
Er konnte diese stürmischen Gefühle wahrnehmen, die um ihn herum tobten und an ihm zogen, während das Haus darum rang, die gewaltigen Energien in sich aufzunehmen, die in überschwemmenden Wogen von ihr ausgingen. Stefan passte seinen Atem an und akzeptierte den Ansturm von Emotionen, sog die Intensität in sich auf und war dankbar dafür, dass er gelernt hatte, Gefühle zur Seite zu schieben. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie denselben Zorn, den Abscheu, die Wut und den furchtbaren, endlosen Kummer fühlte, genau die Emotionen, die ihn gerade überfluteten.
»Was ist passiert?« Der kaum hörbare Klang seiner Stimme sollte nur dazu
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