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Hüttengaudi

Hüttengaudi

Titel: Hüttengaudi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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küren dürfen, hätte »Migrationshintergrund« mit »Bespaßung« um Platz eins gerungen.
    »Gedanken bergauf!« Sie las die Bibelstellen auf der Tafel, blickte an dem Holzkreuz entlang, dann über den Speichersee. Ein Kreuz über dem Wasser. Ein Toter unter dem Kreuz.
    Sie sah Andrea an. »Was hast du gedacht, als du zum ersten Mal hier warst? Spontan?«
    »Äh … na ja … nein, das ist dumm.«
    »Was? Nichts ist dumm.«
    »Dass der sich sein Grabkreuz gleich mitgebracht hat. Ein ganz schön großes.« Andrea sah sie fast entschuldigend an.
    Irmi nickte. »Gut, Andrea. Und wie hast du dich gefühlt?«
    »Irgendwie komisch.«
    »Das ist eine Irgendwie-Dingsbums-Antwort. Genauer!« Irmi sprach freundlich, aber bestimmt. Sie wollte, dass Andrea lernte, weil sie an ihre Mitarbeiterin glaubte. Sie wollte, dass Andrea ihre Sinne schärfte und ihre Wortwahl. Wer lernte, unbestimmte Gedanken in konkrete Worte zu fassen, dessen Gedanken wurden auch konkreter. War das nicht von Kleist? »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.« Wenn man jemandem etwas erzählte oder sogar sich selbst, wurden die Gedanken klarer und strukturierter.
    Sie nahm sich vor, den guten alten Kleist von der Staubschicht zu befreien. Sie hatten in ihrem Hof eine Art Bibliothek. Einen Raum voller Bücher, in dem ihre Mutter immer gebügelt hatte. Einen Raum, den fast niemand mehr betrat. Da standen die ganzen Klassiker, ihre Mutter hatte sie alle gelesen und auf ihre erdige und pragmatische Art den kompliziertesten Philosophen ganz banale Weisheiten entlockt. »Warum seiert der dann so lange rum, wenn das so einfach ist?«, hatte Irmi sie als Teenie mal wütend gefragt. »Kind, sonst wär er doch kein Philosoph!«, hatte sie lachend geantwortet. Irmi hatte Martin später mal eine Kleist-Stelle vorgelesen. Er hatte sie angesehen, als müsse sie dringend in die Anstalt.
    Aber jetzt ging es erst mal um Fischer. Nicht um Martin, den verdammten Martin.
    Andrea stand unsicher da. »Ich find das schwer zu formulieren.« Kathi hätte sich gar nicht erst auf so etwas eingelassen. Sie hätte das als Prüfungssituation empfunden und dagegen rebelliert.
    Andrea atmete tief durch. »Ich fand es wie in einem Film. Als ob man ihn da hingelegt hätte. Ich war irgendwie peinlich berührt.« Sie unterbrach ihre Rede. »Also nicht irgendwie. Ich war peinlich berührt.«
    Irmi lächelte. »Gut. Sehr gut. Dieses erste Gefühl musst du konservieren lernen. Alles, was danach kommt, ist Ratio. Es ist gut, dass wir denken, aber wir brauchen einen Ausgangspunkt für unsere Gedanken. Jetzt sag ich dir, was ich empfunden habe. Mich hat die ganze Szenerie an eine Aufbahrung erinnert. Der Tote liegt auf einem Reisighaufen unter einem Kreuz, das viel zu groß ist für so einen kleinen Menschen. Es macht den Menschen noch kleiner.«
    Andrea hatte sie die ganze Zeit aufmerksam angesehen. »Und der See? Der ist doch auch komisch.«
    »In erster Linie ist er künstlich angelegt. Soweit ich mich erinnere, war der Ort damals ziemlich umstritten. Außerdem finde ich, dass ein Kreuz am Wasser eine ganz eigene Dimension hat. Es spiegelt sich drin, die Wellen verzerren das Kreuz. Was assoziierst du mit Wasser?«
    »Wasser des Lebens. Der Mensch besteht aus Wasser.«
    »Und in Verbindung mit einem Kreuz?«
    »Du meinst im biblischen Sinn?«
    »Vielleicht, ja. Mir fallen Nil, Euphrat und Tigris ein. Die Sintflut, die den Menschen in seine Grenzen gewiesen hat. Die Taufe, die ja früher ein richtiges Eintauchen in einen See oder Fluss war. Die Taufe steht symbolisch fürs Sterben und Wiederauferstehen. Mir fällt Weihwasser ein. Und die reinigende Kraft des Wassers.«
    Andrea hatte sich hingehockt. So gelenkig wäre Irmi auch gern gewesen. Sie wäre wahrscheinlich wie ein Käfer nach hinten gefallen und nicht mehr hochgekommen. Bauchmuskeltraining war auch einer ihrer guten Vorsätze.
    »Der Platz ist bestimmt kein Zufall. Der Mörder hat ihn ausgewählt. Sag mal, ist der Fischer eigentlich hierher transportiert worden?«
    Irmi wiegte den Kopf hin und her. »Wegen des Regens lässt sich das nicht mehr sagen. Wir wissen nicht, ob die Spritze hier injiziert wurde. Man stirbt ja nicht sofort. Er kann auch noch ein Stück gegangen sein, getaumelt.«
    »Aha. Und was machen wir jetzt?«
    »Wir gehen zu dieser Hütte und behalten das Gefühl, das wir momentan haben, diese unbestimmte Unruhe in uns.«
    Sie stapften die Wiese hinauf. Rechts oben lagen die Bergwachthütte und die

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