Hüttengaudi
schwierig, in so einer Situation zu trauern und Abschied zu nehmen.«
»Ich weiß«, sagte Irmi, die inzwischen aufgestanden war. Sie gab Caro die Hand, dann Brischitt und versuchte ihren Blick zu erhaschen, aber diese sah zur Seite.
Es war leider so, dass sie in ihrem Job nette Menschen vor den Kopf stoßen musste. Und es begab sich leider auch immer wieder, dass die Netten eben auch ihre dunklen Seiten hatten. Hatte sie nicht kürzlich erst gesagt, dass die schlimmsten Verbrechen innerhalb der Familie passierten?
Ihr fiel ein, dass sie den streitbaren Hans total aus dem Blickfeld verloren hatten. Es waren definitiv drei Männer am Berg gewesen: Martin und Xaver – und Hans, der sich zumindest in der Nähe aufgehalten hatte. Warum hatte sie eigentlich nie in Erwägung gezogen, dass er dem Bruder gefolgt war? Und warum hatte sie auch niemals ernsthaft erwogen, dass Martin Xaver ermordet hatte?
Weil sie mal mit ihm verheiratet gewesen war. Weil sie sich selber schützen wollte vor noch mehr Schmerz. Martin war der größte Fehler ihres Lebens gewesen, aber wenn er nun auch noch ein Mörder war? Wie sollte sie das aushalten?
Außerdem hatte sie bisher kein Motiv gehabt. Jetzt gab es eins: der Vater, der seine Tochter rächen will. Der Vater, der das von langer Hand geplant hatte. Der sein Opfer ausspioniert, seine Gewohnheiten erforscht hatte. Der gewusst haben musste, dass Fischer auf die Idee anspringen würde, die Hütte zu kaufen.
Sie brauchte eine letzte Sicherheit und stand erneut vor dem Haus der Nachbarin Helga Mayr. Diesmal schien sie am Weggehen zu sein. Sie trug eine Jacke und zog gerade ihre Stiefel an.
»Vielmals Entschuldigung, dass ich schon wieder störe. Aber würden Sie mit mir zu dem Ort kommen, wo Ann-Kathrin verunglückt ist?«
»Das ist Gedankenübertragung. Ich wollte da gerade hin und Blumen mitnehmen. Ein Gesteck. Erika, Grabblumen, ach, was rede ich. Bin gleich da.«
Sie verschwand um das Haus herum, Irmi blieb unschlüssig stehen. Schon kam Frau Mayr wieder und hatte nun einen Topf aus Keramik dabei, in den Heidekraut gepflanzt war und in dem ein paar Zweige von Hagebutte und Buchsbaum steckten. Auf einem Holzstab thronte eine schwarz bemalte Keramikkatze, die Irmi durchdringend aus grünen Augen ansah. Sie schien zu sagen: Jetzt tu doch mal was. Irmi schluckte.
»Ich kann fahren. Ich setz Sie nachher wieder ab«, sagte sie, um überhaupt was zu sagen.
Helga Mayr nickte, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und hielt das Gesteck auf dem Schoß. Irmi fuhr an der Kaserne vorbei, bog ab Richtung Bad Tölz, passierte Hofheim.
»Am besten biegen Sie nach Aidling ab und parken rechts. Wir gehen dann die paar Meter zu Fuß. Hier kann man ja nicht anhalten. Die rasen wie die Irren.«
Oh ja, das war die Rennstrecke Richtung Autobahn, die kannte Irmi nur zu gut. Sie stellte ihren Wagen ab, und die beiden Frauen gingen ein kurzes Stück an der Straße entlang. Das Kreuz am Straßenrand war schlicht. Irmi war hier sicher schon oft vorbeigekommen, ohne es wahrzunehmen. Weil auch sie raste, wie die ganze Welt mit Tunnelblick irgendwelchen Zielen zusteuerte, deren Erreichen anscheinend von einigen wenigen Minuten abhing, die man am Ende gespart hatte. War das entscheidend am Ende eines Lebens? Wie schnell man gewesen war?
Die Nachbarin hatte eine Gartenschere mitgebracht, mit der sie das hohe Gras ein wenig beschnitt. Vor dem Kreuz saßen ein paar Plüschtiere, die etwas mitgenommen aussahen.
»Ann-Kathrin hat Tiere geliebt. Vor allem Pferde.«
Helga Mayr setzte das Gesteck ab und faltete die Hände. Ihre Augen waren geschlossen, und als sie sie wieder öffnete, rannen ihr die Tränen über die Wangen. Stumme Tränen – die schlimmsten, die es gab. Sie folgten auf die heißen Tränen der ersten Verzweiflung. Irmi schluckte und kämpfte gegen ihre eigenen Tränen an.
In rascher Folge rasten vier Autos an ihnen vorbei, die Motoren und Reifen auf dem Asphalt waren so laut, dass es wehtat. Irmis Blick glitt über die Landschaft und wanderte dann zurück zum Kreuz. Es war aus hellem Holz, das zu verwittern begann. Es war eine Miniaturausgabe des Kreuzes am Speichersee. Auf einmal fröstelte sie.
Langsam gingen die beiden Frauen wieder zum Auto. Zurück fuhr Irmi über Riegsee. Es war, als könne sie diese dröhnende Straße nicht mehr ertragen. In Murnau ließ sie Helga Mayr aussteigen. Ihr »Wiedersehen« war sehr leise. »Ach, Frau Mangold, sie ruht nun in Frieden«, sagte sie.
Diese Frau
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