Huff, Tanya

„so
handelt es sich um Richard Sullivan. Er ist einer unserer Pfleger und dürfte
sich in diesem Raum gar nicht aufhaken, - was wohl auch erklärt, warum die
Flurtür verschlossen war."
    „Pfleger", wiederholte Kessin. „Das würde auch
erklären, warum er Uniform trägt!" Dr. Mui warf dem Beamten einen
verächtlichen Blick zu, woraufhin er einen hastigen Schritt zurücktrat: Schon
wieder war er für zu leicht befunden worden.
    Sullivan war aufgestanden und starrte nun, einen
unverständlichen Protest murmelnd, verlegen auf die Matratze hinunter.
    „Bitte wiederholen Sie das, Richard! Lauter, wenn es
geht."
    „Das Feldbett ist so unbequem!"
    „Sind Sie der Pfleger, der laut Nachtschwester im
Aufenthaltsraum der Angestellten schläft?" fragte Potter und wunderte sich
darüber, daß ihr

die ganze Angelegenheit so vorkam, als habe sie mitten in
einer Fernsehsendung den Sender gewechselt.
    „Offenbar nicht. Er ist der Pfleger, der eigentlich dort
schlafen sollte." Mit einer ärgerlichen Kopfbewegung wies Dr. Mui auf die
Tür. „Gehen Sie bitte in mein Büro. Wir unterhalten uns später noch."
    „Einen Moment, Mr. Sullivan!" Als sich der Mann ihr
zuwandte, sah Wachtmeisterin Potter, daß er die längsten Wimpern besaß, die sie
je bei einem männlichen Wesen zu Gesicht bekommen hatte. Lang und dicht
umstanden sie braune Augen, die so sanft blickten, daß jede Bedrohung, die man
angesichts der Köpergröße des Pflegers empfinden mochte, sofort ad absurdum
geführt wurde. Der Mann wartete geduldig, und die Wangen der Polizistin röteten
sich, als ihr klar wurde, daß er ja auf sie wartete, darauf, daß sie den Mund
öffnete. „... fragen Sie ihn, wie er in das Zimmer gekommen ist."
    Nur, daß sie das schon wußten.
    „Besitzen Sie ein ... ähem ... ein rotes T-Shirt?"
    Er nickte.
    „Haben Sie es heute auf dem Weg zur Arbeit getragen?"
    Der Pfleger nickte erneut. „Auf dem Weg zur Arbeit trage
ich nie Uniform, denn die verschwitze ich sonst leicht. Ich bringe die saubere
Uniform in einem Beutel mit."
    „In einem Beutel?"
    Riesige Hände zeichneten ein Rechteck in die Luft. „Ja,
ein Beutel... wie ein Kleidersack."
    „Wie ein Kleidersack." Potter sah ihren Partner an
und konnte feststellen, daß er die gleichen Schlüsse zog wie sie. Wenn man auf
dem Seitenstreifen der Autobahn parkte, war es durchaus möglich, daß man aus
der Entfernung einen Mann in einem roten T-Shirt, der einen Kleidersack über
der Schulter trug, für einen Mann in einem roten T-Shirt hielt, der einen
Körper über die Schulter geworfen hat. Das galt besonders angesichts der
Tatsache, daß ein Körper ja gar nicht vorhanden war.
    „Wenn Sie erst einmal das Zimmer gefunden haben und den
Mann darin, und wenn Sie herausgefunden haben, wie er in das Zimmer gekommen
ist, dann, da habe ich volles Vertrauen, werden Sie schon wissen, wie Sie in
der Sache weiter vorzugehen haben."
    Potter runzelte die Stirn. Vorgehen ja - aber in welcher
Sache?

„Ich hoffe, wir haben den armen Kerl nicht in eine allzu
große Bredouille gebracht." Kessin bog in die Mount Seymour Road ein, die
zurück nach Nord-Vancouver führte. „Nicht gerade die Frau, mit der man sich
gern anlegt, diese Ärztin. Überhaupt gehen mir Ärzte auf den Keks. Lassen die
Leute vierzig Minuten und länger im Wartezimmer hocken, als hätte man sonst
nichts anderes zu tun, aber wenn unsereins länger als drei Sekunden braucht,
um auf einen Notruf zu reagieren, kreischen sie sich die Seele aus dem
Leib." Er kratzte sich den Schnurrbart und warf einen Seitenblick auf
seine Beifahrerin. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?"
    Potter hatte geschwiegen, seit sie über Funk die Nachricht
durchgegeben hatte, daß die Sache mit der Klinik ein Fehlalarm gewesen war.
Nun zuckte die junge Frau die Achseln. „Mir ist da gerade etwas eingefallen:
Den Kleidersack haben wir nie wirklich zu Gesicht bekommen."
    „... ein Polizist aus einer Stadt am anderen Ende des
Landes folgt Ihnen bis zur Entsorgungsstätte. Heute nacht haben wir dann zwei
ungebetene Besucher, die ihren gefesselten Freund dann aber da liegenlassen,
wo sie ihn gefunden haben und anschließend die örtliche Polizei vorbeischicken,
damit die sich ein wenig umsehen soll. Unter dem wirklich schwachen Vorwand,
sie hätten gesehen, wie hier durch die Hintertür ein Körper ins Haus geschafft
wurde." Dr. Mui legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander; es
bildete sich ein kleiner Turm, über den hinweg sie Sullivan