Huff, Tanya
Sonnenuntergang in Frieden." Henry öffnete die Tür, streckte
die Hand aus und streichelte Tonys Wange mit zwei Fingern. Alles, was ihm zu
sagen in den Sinn kam, war „Auf Wiedersehen", aber diese Worte mochte er
noch nicht sagen, und so sagte er lieber gar nichts.
„Ich halte das nicht aus! Dieses Schlafzimmer dünstet
selbst im Stockfinsteren noch Rosa aus!" Vicki knüllte das Kopfkissen
zusammen und wälzte sich auf die andere Seite. Sie wußte ganz genau, daß das
Schlafzimmer mit ihrer Laune nichts zu tun hatte, und außerdem war ihr auch
klar, daß es außer dem Schlafzimmer nichts gab, woran sie ihre Laune hätte
auslassen können.
Die Fahrt zurück zur Wohnung war einfacher gewesen als die
Fahrt hinaus zum Projekt Hoffnung. Je mehr Zeit sie und Henry zusammen verbrachten,
je stärker sie den Waffenstillstand zwanghaft aufrechterhielten, desto
einfacher wurde es. Aber sie wollte immer noch irgend etwas umbringen.
Nicht Henry.
Mike.
„Es war falsch, ihn dort zu lassen. Ich weiß das - ich
weiß es einfach. Warum habe ich nach all den Jahren", fragte sie die
inzwischen rasch enteilende Nacht, „plötzlich beschlossen, auf einen ..."
„Was ist denn hier los?"
Die Frage unterbrach den im Schwesternzimmer tobenden
Streit, und Schweigen trat ein. Die beiden Polizeibeamten und die
Nachtschwester wandten sich erleichtert der Stimme zu, die die Frage gestellt
hatte; drei sehr unterschiedliche Gesichter, die jedoch alle den gleichen
beredten Ausdruck trugen: Gott sei Dank! Endlich jemand, der uns sagt, was zu
tun ist.
Erregt trat die Nachtschwester vor. „Dr. Mui, diese beiden
Polizeibeamten wollen sich in der Klinik umsehen! Anscheinend hat jemand der
Polizei gemeldet, hier sei am späten Nachmittag durch die Hintertür ein Körper
ins Haus geschafft worden!"
„Wie bitte?" Dr. Muis gebieterischer Blick glitt von
der Schwester zu den beiden Polizisten. „Hier ist heute überhaupt niemand
eingeliefert worden. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Informant sich
geirrt hat."
„Der fragliche Körper befand sich nicht auf einer Bahre,
sondern wurde der Aussage nach von einem großen Mann in einem roten T-Shirt getragen,
der ihn sich über die Schulter geworfen hatte. Ich bezweifle, daß das die Art
ist, in der Ihre Patienten gewöhnlich hier ankommen, Dr....?"
„Mui." Ebenholzfarbene Brauen hoben sich zu einem
feingezeichneten Bogen. „Wer sind Sie?"
„Polizeiwachtmeisterin Potter." Mit einer
Kopfbewegung wies die Beamtin auf ihren Kollegen. „Das ist Polizeiwachtmeister
Kessin. Kommen Sie immer um diese Zeit in die Klinik? Es ist fünf Uhr morgens -
ein wenig früh, um den Tag zu beginnen, nicht?"
„Ich arbeite zu den merkwürdigsten Zeiten." Was Sie
allerdings nichts angeht, schwang ungesagt im Ton der Ärztin mit. „Wenn Sie mir
nicht glauben, können Sie gern Schwester Damone befragen, sie wird es bestätigen.
Was den heutigen Tag betrifft, so habe ich einen Patienten, dessen Krankheit
ins vierte Stadium eingetreten ist - wenn sich für ihn kein passender Spender
findet, wird er innerhalb einer Woche tot sein. Ich bin hier, weil ich nach ihm
sehen wollte. Ich gehe übrigens davon aus, daß Sie beide unterzeichnete
Organspenderausweise bei sich tragen?"
Dr. Mui erwartete ausdrücklich eine Antwort; es wäre
unmöglich gewesen, sie ihr zu verweigern.
Ein holpriges Duett versicherte, dies sei der Fall, und
Dr. Mui nickte. „Das ist auch gut so. Denn wenn Sie tot sind, haben Sie ja
weiter keine
Verwendung für ansonsten völlig gesunde Organe. Hunderte
von Menschen sterben jedes Jahr, weil es viel zu wenige dieser
unterschriebenen Organspenderausweise gibt. Nun zu diesem Körper, der hier
angeblich hereingetragen wurde. Wenn Sie das Klinikgelände durchsuchen wollen,
dann haben Sie doch sicherlich einen Durchsuchungsbefehl, oder?"
Potter blinzelte ein wenig verwirrt; sie fühlte sich durch
die moralische Belehrung und den anschließenden abrupten Themenwechsel leicht
brüskiert. „Durchsuchungsbefehl, Frau Doktor?"
„Durchsuchungsbefehl, Wachtmeisterin Potter."
Potter fühlte sich stark an ihre Schulzeit an einer
katholischen Grundschule erinnert. Sie gab sich Mühe, die damit verbundenen
Gefühle zu unterdrücken - es half wenig, daß keine der Nonnen, die sie damals
unterrichtet hatten, asiatischer Abstammung gewesen war -, räusperte sich und
warf zur seelischen Stärkung einen Blick auf ihren Notizblock. „Wir hatten
gehofft, uns ein wenig umsehen zu können, ohne einen
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