Huff, Tanya
scheinbar
zusammenhanglose Informa tionsbruchstücke zusammenzutragen, weil sie
hoffen, daß diese irgendwann einmal einem zusammenhängenden Ganzen gleichen
könnten. Ein wenig so, als würde man wild nach einzelnen
Puzzlestücken suchen und sie zusammensetzen, ohne zu wissen, wie das
fertige Bild aussehen soll. Privatermittler verbrachten weitaus mehr Zeit in
Bibliotheken als bei wilden Verfolgungsjagden im Auto, und ihre Erfolge
verdankten sie zu glei chen Teilen gutem Training, Talent und Glück und nicht zuletzt
einer hartnäckigen und dickköpfigen
Bereitschaft, hart am Rande der Beses senheit den Dingen auf den Grund
zu gehen.
Besessenheit. Vicki war besessen davon, die
Leiche ihrer Mutter zu fin den, und so konnte sie nicht trauern,
wie sie eigentlich hätte trauern sol len, und somit konnte
sie auch nicht zu ihrem eigentlichen Leben zurück finden. Henry lehnte
sich gegen den Baumstamm und fragte sich, wie lange
er wohl bereit wäre, das mit anzusehen. Er konnte Vickis Barrieren durchbrechen, aber was wäre der Preis? Ließen sich
die Barrieren beiseite räumen, ohne daß Vicki selbst zerbrach? Ohne daß er sie
verlor? Ohne daß er es
Detective-Sergeant Mike Celluci überließ, die Scherben aufzulesen?
Plötzlich lächelte Henry, und
der Halbmond seiner Zähne blitzte in der Dunkelheit kurz hell wie der Mond auf. Dein Leben
bemißt sich in Jahr hunderten! wies er sich selbst
zurecht. Laß ihr Zeit, mit dieser Sache fertig zu werden. Es sind doch erst ein paar Tage vergangen. Zuviel des im zwanzig sten
Jahrhundert weitverbreiteten Vorurteils, man müsse mit unangeneh men Dingen so rasch und ordentlich wie möglich
fertig werden, hatte bereits auf
sein Denken abgefärbt. Zwar war es wirklich nicht gesund, Gefühle zu unterdrücken, doch ... nach zwei
Tagen kann eigentlich von Be sessenheit
noch keine Rede sein. Henry mußte
sich selbstkritisch eingeste hen, daß
es ihm aufgrund der Anwesenheit Mike Cellucis vorgekommen war, als sei weitaus mehr Zeit vergangen. Aber
er kann auch nicht mehr für sie
tun als du! Verlaß dich ruhig auf ihre Stärke, auf ihren gesunden Menschen verstand und auf das Wissen, daß sie dich liebt - soweit ihr das möglich ist.
Euch
beide liebt, ergänzte eine leise Stimme.
Halt
den Mund, befahl Henry ihr wild.
Er richtete sich auf, trat ein paar Schritte vom Baum
weg und erstarrte mit gesträubten Nackenhaaren. Ein Sekunde
später setzten die Schreie ein.
Das Echo der Schreie prallte an den Mauern
der Gebäude ab, die hier eng beieinanderstanden. So fiel es Henry
schwer festzustellen, woher die Rufe kamen. Ein paarmal folgte er der falschen
Spur; dann gelangte er auf den kleinen
abgeschiedenen Parkplatz und zwar genau in dem Mo ment, in dem auch die Campuspolizei dort mit
quietschenden Reifen vor fuhr. Die
vorderen Scheinwerfer des Polizeifahrzeugs beleuchteten ein vor Entsetzen fassungsloses Mädchen im Teenageralter,
das sich langsam rückwärts von einem
verrosteten Auto und vom Körper eines ebenfalls noch sehr jungen Mannes entfernte, der aus dem Wagen gefallen zu sein schien
und nun halb auf dem Asphalt lag. Der Junge war offensichtlich tot gewesen, als die Wagentür geöffnet wurde -
nur Tote fallen so, als sei en sie ohne Knochen und könnten getrost
außer acht lassen, wo sie im Fallen
aufschlagen.
Henry kniff die Augen zusammen, um das
grelle Scheinwerferlicht aus zusperren und glitt lautlos in einen dichten Schatten.
Zwar war es ganz normal, daß ein zufälliger
Passant nachsehen kam, was diese Schreie zu bedeuten hatten, aber Henry hatte gelernt, daß Seinesgleichen mehr Überlebenschancen hatten, wenn sie nach
Möglichkeit anonym blieben. Also entfernte er sich und machte dabei kaum mehr
Lärm als der Wind, der um die Kalksteinmauern strich. Das Mädchen war in
Sicherheit, und wenn Henry auch
bestimmt eingegriffen hätte, wäre er rechtzeitig gekom men, so hatte er doch kein Interesse daran, sich
mit den unzähligen verschiedenen Arten zu befassen, auf die Sterbliche andere
Sterbliche ums Leben brachten.
„Der Typ sah aus wie tot! Verwest und tot! Ich bin nicht
hysterisch! Ich habe das schließlich schon
in Filmen gesehen!" Die letzten Worte verklangen in einem immer
lauter werdenden Wehklagen.
Der Typ sah aus
wie tot!
Und ein Leichnam war verschwunden.
Henry
blieb stehen und wandte sich um. Wahrscheinlich standen die beiden Dinge nicht
in Zusammenhang. Trotzdem ging er leise um die Ecke des Gebäudes herum, und
dann verschlug es ihm fast den Atem. Der
Geruch
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