Huff, Tanya
des Todes, der ihn im Bestattungsinstitut nur gestreift hatte, lag hier
so dicht über dem Gras, daß Henry sich abwenden mußte. Er ta stete sich
an den Rändern des Geruchs entlang - und kam diesem damit bereits viel näher, als es ihm eigentlich lieb
war -, verfolgte die Spur bis hin zu einer mit Schlaglöchern übersäten
Zufahrtsrampe und verlor sie wieder.
Als der Klang der Sirenen näherkam, zog Henry die Nacht
wieder um sich
und ging zurück zum Parkplatz. Er wollte zuhören und -sehen, bis das Drama beendet war. Es war gut möglich, daß
das Mädchen einfach hysterisch
geworden war und in ihrem Entsetzen dem tatsächlichen Mord, dem tatsächlichen Mörder ein zusätzlich
schreckliches Antlitz an dichtete. So
würde die Polizei es sehen. Nicht aber Henry.
Wenn Henry mit leeren Händen aus dem
Leichenschauhaus kommt, soll er Bus fahren. Ein junger
Asiate, der direkt vor der Hintertür sitzt und Süßigkei ten
ißt, den wird man doch wohl finden können, Mike kann die Tagschicht übernehmen. Vicki markierte die
Haltestelle Brook Street auf ihrem Busplan mit einem Bleistiftkreis. Keine
wirklich geniale Spur, aber die einzige, die sie hatten, und Vicki wußte, daß
die Polizei weder über die Mittel noch über die Zeit
verfügte, diese Spur zu verfolgen. Sollte Tom Chen - oder
wie immer der Mann heißen mochte - noch in Kingston sein und immer
noch Bus fahren, dann würde sie selbst, nicht die Polizei, ihn ir gendwann einmal
finden.
Irgendwann einmal. Vicki lehnte
sich zurück und rieb sich die Augen. Wenn er immer noch in Kingston ist, heißt das, und wenn
er immer noch Bus fährt.
Und wenn nicht?
Was, wenn er die Leiche ihrer Mutter einfach in ein Auto
geworfen hatte und weggefahren war? Nicht nur die Stadt verlassen
hatte, sondern das Land? Die Ivy Lea Bridge über Thousand
Islands hinüber in die Ver einigten Staaten war nicht weit
entfernt. Bei der Menge an Fahrzeugen, die täglich diese Brücke
passierten, war die Wahrscheinlichkeit, vom Zoll angehalten und kontrolliert zu werden,
so gering, daß man sie getrost außer acht lassen durfte. Der Mann mochte
inzwischen sonstwo sein.
Andererseits
hatte er ihre Mutter gekannt. Warum hätte er denn sonst zwei andere Leichen übergehen sollen, die dasselbe Bestattungsinstitut durchlaufen hatten, um dann mit dem Leichnam ihrer
Mutter zu ver schwinden? Mit just
diesem Leichnam? Also standen die Chancen doch gut, daß er seinen Stützpunkt hier in der Gegend hatte.
Das beantwortete die Fragen „Wer" und „Wo" oder faßte zumindest zusam men,
was sie zu diesen Fragen an Informationen zusammengetragen hatten.
Vicki massierte ihren Nacken, versuchte, die verspannten
Muskeln zu lockern, die ihre Schulterpartie in einen einzigen
geschlossenen Block verwandelt hatten und beugte sich dann wieder
über den Couchtisch, obwohl sie genau wußte, daß sie am
Küchentisch bequemer sitzen wür de. Sie stapelte die
Notizen über Chen in einer Ecke und breitete dann auf
dem Tisch den Inhalt des Ordners aus, den Dr. Friedman ihr gegeben hatte.
„Wer", „Wann", „Wo" und sogar „Wie" - zu all diesen Fragen
gab es Stichworte, notiert auf einem je eigenen Stück Papier
unter der passen den Überschrift, die mit schwarzem Filzstift
geschrieben ganz oben auf jeder Seite prangte. Nur das Blatt „Warum" war noch
unbeschrieben. Warum stahl man eine Leiche?
Warum stahl man die Leiche ihrer Mutter?
Warum
hat sie mir nicht gesagt, daß sie so krank ist?
Warum bin ich nicht
ans Telefon gegangen?
Warum
habe ich sie nicht angerufen?
Warum
war ich nicht da, ah sie mich brauchte?
Mit einem Krachen zerbarst der Bleistift zwischen Vickis
Fingern, und die junge Frau sackte mit heftig klopfendem Herzen in die
Sofakissen zu rück. Diese Fragen gehörten nicht zu den
Ermittlungen; diese Fragen waren für später, würden geprüft
werden, wenn sie ihre Mutter zurückhatte. Vicki umklammerte mit der linken Hand
den Brillenrand und rang um Fassung. Sie mußte stark bleiben:
für ihre Mutter.
Im selben Augenblick legte sich der Duft des
Parfüms, das ihre Mutter benutzt hatte, der Duft der Kosmetika, des Badeöls, der immer noch
in der Wohnung hing, wie ein Überzug aus
Vergangenheit über Vickis Mund und
Nase. Sie bohrte sich die rechte Hand in die Magengrube und unter drückte mit aller Macht die plötzlich aufsteigende
Übelkeit. Die der Woh nung eigenen
Geräusche drängten in den Vordergrund. Der Kühlschrank arbeitete mit der Lautstärke eines startenden
Hubschraubers, während
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