Huff, Tanya
eigentlich
gegen den Strich ging.
Wahrscheinlich
hätte es wenig geholfen, reflektierte Henry während er wartete, wenn er
Celluci erzählt hätte, daß er in der Vergan genheit
bereits einmal versucht hatte ...
Henry war nicht in England gewesen, als man Henry Howard, den Earl of
Surrey, verhaftete. Die Nachricht mußte ihn erst einmal erreichen; dann hatte er, bedingt durch seine Natur, komplizierte Reisevorbereitungen zu treffen, und so erreichte
er London erst am
8. Januar, zwei Tage vor dem Termin, den man für die Hinrichtung des Freundes angesetzt hatte. Eine Nacht hatte er panisch damit zu gebracht, alle notwendigen Informationen zusammenzubekommen, und am neunten Januar stand er eine Stunde nach Sonnenuntergang und
nachdem er sich unten am Hafen unauffällig genährt hatte vor dem Tower of
London und starrte an dessen schwarzer Steinmauer empor.
Ursprünglich war Surrey in einer Zimmerflucht mit Blick auf die Themse untergebracht gewesen; er wurde jedoch nach einem Aus bruchversuch, bei dem er bei Ebbe probiert hatte, die Abflussroh re hinabzuklettern, in weniger behagliche, im Inneren des Turms gelegene Gemächer verlegt. Henry konnte von seinem Standort aus das flackernde Licht in Surreys Fenster nur mit Müh und Not erkennen.
„Nein", raunte der Vampir der Nacht zu. „Ich kann mir vorstellen, daß du nicht schlafen kannst, du arroganter, dummer Hund du, nicht heute, wo dich am Morgen der Klotz des Henkers erwartet."
Henry hatte alle Gegebenheiten in Betracht gezogen und war zu dem
Ergebnis gekommen, daß eigentlich gar kein Grund dafür bestand, die Wände des Towers emporzusteigen - auch wenn er sich nur
ungern von solch nobler Geste trennte. Statt dessen ging er einfach, ein
Schatten unter Schatten, an den Wachen vorbei und betrat die Räume des alten Kerkers. Er hob den schweren Eisenriegel von
Surreys Tür und glitt leise in das Zimmer des Freundes, wobei er die Tür hinter sich zuzog. Wenn sich die Dinge
bei Hof nicht drastisch geändert hatten, würden sich die Wachen erst
wieder im Morgengrauen mit dem Gefangenen
befassen, und bis dahin wären sie
schon über alle Berge.
Eine Weile stand Henry da und sog den Anblick und den Geruch des liebsten Freundes, den er im Leben gehabt hatte, in sich auf. Ihm wurde klar, wie sehr Surrey ihm gefehlt hatte. Die schmale, ganz in Schwarz
gekleidete Gestalt saß an einem grob gezimmerten Tisch vor einem kleinen Fenster. Ein Talglicht war die einzige Beleuchtung. Eine schwere Eisenkette umspannte ein zartes
Fußgelenk und endete an einem Riegel im Fußboden. Surrey hatte
geschrieben - Henry konnte die frische Tinte
noch riechen -, aber jetzt saß er da, das dunkle Haupt auf den Arm gebettet,
und seine Schultern drückten
pure
Verzweiflung aus. Henry spürte, wie sich eine Faust um sein Herz legte und mußte sich zusammenreißen, sonst
wäre er auf den anderen zugestürzt und hätte ihn in einer hysterischen Umarmung erstickt.
Statt dessen trat er nur einen Schritt von der Tür weg und rief leise: „Surrey?"
Der dunkle Kopf hob sich hastig. „Richmond?" Der junge Earl drehte sich hastig auf seinem Stuhl um, die Augen vor Schreck weit
aufgerissen. Als er sah, wer dort in seiner Zelle stand, warf er sich mit aller
Gewalt und unter großem Kettenrasseln gegen die am weitesten von der Tür entfernte Wand und stieß einen leisen Schrei aus.
„Bin ich dem Tode schon so nah", stöhnte er, „daß die Toten mich besuchen?"
Henry lächelte. „Ich bin aus Fleisch und Blut, wie du. Mehr Fleisch sogar - du hast ziemlich abgenommen."
„Na ja, der Koch tut sein bestes, aber ich bin halt anderes ge wöhnt." Eine langfingerige Hand machte die abwertende Bewegung, die Henry so gut kannte, und bedeckte dann Surreys Augen. „Ich werde
verrückt! Ich spaße mit einem Geist."
„Ich bin kein
Geist!"
„Beweise es."
„Faß mich doch an!" Mit ausgestreckter Hand trat Henry vor.
„Um meine Seele zu verlieren? Niemals." Surrey schlug ein Kreuz und richtete
sich kerzengerade auf. „Wenn du noch näher kommst, rufe ich die Wachen."
Henry runzelte die Stirn: Die Dinge liefen ganz anders, als er geplant
hatte. „Gut, ich werde es dir auch so beweisen, ohne daß du mich berührst." Er dachte einen Moment nach.
„Erinnerst du dich noch daran, was du sagtest, als wir bei der
Hinrichtung der zweiten Frau meines Vaters
zusahen, deiner Kusine Anne Boleyn? Du sagtest, ihre Verurteilung sei unvermeidbar aus Gründen der Staatsräson, aber die arme Frau täte dir
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