Human
schwankend vor ihr wie ein erbärmlich dürrer Meld. Dann fing er an zu weinen.
Falls das ein Trick war, um ihr Mitleid zu erregen, würde es nicht funktionieren. Falls es sein Ernst und kein Trick war, würde es dennoch nichts bringen. Als er ebenso körperlich wie emotional zusammenbrach, sich auf den Boden hockte und zusammenkauerte und sein Gesicht in den Händen verbarg, ging sie in Richtung Schlafzimmer.
»Versuch, ein wenig zu schlafen. Trotz deiner unzähligen Ausschweifungen werden wir morgen früh aufbrechen. Du hast schließlich verlangt, einige Tiere zu sehen, erinnerst du dich? Außerdem müssen wir mögliche Beobachter davon überzeugen, dass wir stinknormale Touristen sind. Also werden wir uns Tiere ansehen. Dir geht’s bestimmt bald wieder besser. Aber kotz nicht auf den Fußboden. Ich hab keine Lust, noch zusätzliche Reinigungskosten zu bezahlen.«
Er wollte noch etwas sagen, als sie aus dem Zimmer marschierte, aber seine Stimme versagte. Tatsächlich waren in seinem Inneren einige frustrierte Körperfunktionen dabei, den Dienst einzustellen. Als sich auch die letzte davon verabschiedet hatte, brach er auf den synthetischen Fußbodenkacheln in einer Pfütze seines eigenen Speichels zusammen.
Im Schlafzimmer verschloss Ingrid Seastrom die Tür hinter sich, zog sich aus, legte ihre Kleidung sorgfältig gefaltet auf einen Stuhl und schlüpfte nackt in das wartende Bett. Sie hielt einen Augenblick inne, bevor sie die Augen schloss.Whispr hatte aufgehört zu weinen, und aus dem anderen Zimmer war kein Laut mehr zu hören.
Ich sollte mal nach ihm sehen , sagte sie sich. Wenn schon nicht aus persönlichem Interesse, dann war es doch zumindest ihre Pflicht als Ärztin.
Scheiß drauf. Wenn er starb, konnte sie ohne ihn genauso gut alleine weitermachen. Wenn er überlebte, würde sie seine Anwesenheit tolerieren und ihn benutzen, wenn es nötig war. Der Mann war ein Accessoire, ein Zubehörteil, ein Werkzeug, das ihr helfen konnte, das Geheimnis des Fadens zu lüften. Nichts weiter. Er bedeutete ihr nichts. Sie würde weiterhin freundlich zu ihm sein, weil das nun mal ihre Art war. Wenn ihre Suche abgeschlossen war, erfolgreich oder nicht, dann würde sie ihn ebenso gleichgültig zurücklassen wie das Mietfahrzeug.
Als sie so auf der rechten Seite mit angezogenen Knien im Bett lag, dachte sie an ihre wunderschöne Wohnung im fünfundachtzigsten Stock, an deren moderne Annehmlichkeiten und ihre beruhigende Vertrautheit. Sie vermisste ihre Freunde und Kollegen, ihre Patienten, das frische tägliche Mittagessen in einem der Restaurants des Turms. Hier war sie nun, auf der Flucht vor dem SAHV , verloren und gejagt, und ihr einziger Gefährte war ein unberechenbarer, degenerierter Krimineller, der aus der Kanalisation von Savannah gekrochen und in ihrer Praxis aufgetaucht war. Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hätte ihn gleich wieder wegschicken sollen.
Aber sie hatte ihn nicht mit dem Faden gehen lassen können. Er schwebte glühend vor ihrem inneren Auge, voller Versprechungen über unmögliche Technologien und verborgene Geheimnisse. Ihre Entschlossenheit, ihn zu verstehen, war so mächtig und so stark wie eh und je.
Erschrocken stellte sie fest, dass ihre eigene Besessenheit nicht sehr viel anders war als perverser Sex, Drogen oder was auch immer eine Kreatur wie Whispr zur Entspannung nutzte. Sie hatte mehr als einmal gehört oder gelesen, dass die unablässige Gier nach wissenschaftlichen Daten ebenso süchtig machen konnte wie jedes Narkotikum. Und genau das war sie auch: ein Wissens-Junkie. Sie fixierte sich auf das Mysterium des Fadens. Wie ließen sich ansonsten die Widersprüche ihrer momentanen Lage erklären? Das passte alles ganz und gar nicht zu ihr. Für Ingrid Seastrom stellte schon ein Wochenende am Strand eine starke Störung ihrer Routine dar. Und jetzt befand sie sich in Südafrika und jagte technologischen Phantomen hinterher.
Ihr wurde bewusst, dass sie Mitleid mit Whispr haben konnte. Verachten konnte sie ihn nicht, sonst würde er sie möglicherweise ebenfalls verabscheuen. Nicht, dass das wichtig war. Verachtung oder Freundschaft – solange sie zusammen weiterkamen und einander helfen konnten. Nun fiel ihr auch erst so richtig auf, dass er zwar betrunken gewesen war und sich von ihr angezogen gefühlt hatte, aber sie dennoch nicht berührt hatte. Genau genommen hatte er sie nicht mehr seit jenem Abend in ihrer Wohnung berührt. Doch auch wenn er sein Verlangen nicht
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